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9. August 2020 – Sprechstunde: Drei neue Orte für den Roten Faden (mit Hartmut El Kurdi, Jan Fischer und Selene Mariani)

So. 09.08. | 12.00 (bleibt digital verfügbar)
Kunst umgehen: Sprechstunde
Unterwegs mit Gästen
Drei neue Orte für den Roten Faden (mit Hartmut El Kurdi, Jan Fischer und Selene Mariani)

Diese Sprechstunde nimmt ein Jubiläum zum Anlass für neue Perspektiven: Am 1. September vor 50 Jahren begann – zeitgleich mit dem Straßenkunstprogramm – die Geschichte des Roten Fadens, damals höchst innovatives Stadtmarketing. Texte für das erste Begleitheft schrieb unter anderem der später legendäre Autor und Übersetzer Harry Rowohlt. Wir haben drei Autor*innen gebeten, jeweils einen neuen Ort für einen alternativen Roten Faden zu beschreiben: Hartmut El Kurdi, Jan Fischer und Selene Mariani.

[Foto: Martina Nolte (Creative Commons Lizenz)]

Herzlichen Glückwunsch zum fünfzigsten Geburtstag, Roter Faden!

Der rote Faden als Metapher

„Unter einem roten Faden versteht man ein Grundmotiv, einen leitenden Gedanken, einen Weg oder auch eine Richtlinie. „Etwas zieht sich wie ein roter Faden durch etwas“ bedeutet beispielsweise, dass man darin eine durchgehende Struktur oder ein Ziel erkennen kann. Der Begriff wird seit Goethes Wahlverwandtschaften im übertragenen Sinne verwendet. In den einleitenden Bemerkungen zu einem ersten Auszug aus Ottiliens Tagebuch beschreibt er den Kennfaden der britischen Marine: „Sämtliche Tauwerke der königlichen Flotte sind dergestalt gesponnen, dass ein roter Faden durch das Ganze durchgeht, den man nicht herauswinden kann, ohne alles aufzulösen, und woran auch die kleinsten Stücke kenntlich sind, dass sie der Krone gehören. Ebenso zieht sich durch Ottiliens Tagebuch ein Faden …“. [Quelle: Wikipedia]

Der Rote Faden als Stadtmarketing in Hannover

„Beim Roten Faden in Hannover handelt es sich um einen Rundgang zu den 36 wichtigsten Sehenswürdigkeiten zur Architektur und Geschichte in der Innenstadt. Der Rote Faden, angelehnt an den sprichwörtlichen roten Faden, ist eine 4,2 Kilometer lange Linie, die mit roter Farbe auf das Pflaster markiert wurde. Die Route für Kulturtouristen zu den Sehenswürdigkeiten Hannovers läuft entlang von Fußgängerwegen und kreuzt zahlreiche Straßen. Die Linie beginnt am Ernst-August-Platz an der Tourist Information gegenüber dem Hauptbahnhof und endet am Ernst-August-Denkmal vor dem Hauptbahnhof. Der Verlauf des Roten Fadens ist durchgehend barrierefrei. Die Markierung wird jährlich mit knapp 70 Litern Farbe nachgezogen. Zum Roten Faden hat die Hannover Marketing und Tourismus GmbH ein gleichnamiges Heft herausgegeben, in dem der Verlauf mit den einzelnen Stationen erklärt wird. Diese Begleitbroschüre ist in zehn verschiedenen Sprachen erhältlich.“ [Quelle: Wikipedia]

Historische Hintergründe des Roten Fadens

„Der Rote Faden wurde 1970 aus Anlass des ersten hannoverschen Altstadtfestes angelegt und umfasste 36 Objekte. Er entstand im Rahmen einer Werbekampagne, die die Düsseldorfer Agentur Gerstner, Gredinger & Kutter GGK für die Stadt Hannover entwickelt hatte. Die Agentur wurde 1969 unter Oberstadtdirektor Martin Neuffer ausgewählt. Hannover stand damals im Ruf, eine langweilige Stadt zu sein. Eine von der Stadt 1969 in Auftrag gegebene Imagestudie bestätigte: „Es fehlt alles Modische, Moderne, eine großzügige Lebensauffassung. Provinzielles Denken ist aber gerade heute verpönt. Es ist mit der Vorstellung von Engstirnigkeit und Rückständigkeit verkoppelt. Der Hannoveraner wird als kühl, steif und beamtenhaft gesehen, als jemand, der keinen Spaß versteht und weder sich noch anderen Freiheiten erlaubt.“ Der kunstsinnige Oberstadtdirektor Neuffer initiierte darauf hin eine Image-Kampagne mit zwei Komponenten: dem Straßenkunstprogramm und der Hannover-Werbung.“ [Quelle: Wikipedia]

„Mit der Organisation des Straßenkunstprogramms wurde Mike Gehrke betraut, zunächst als Geschäftsführer des Kunstvereins Hannover, später als städtischer Referent für Kommunikationsförderung. Für die Hannover-Werbung zeichnete Gerhard Meyer vom Wirtschaftsdezernat der Stadt verantwortlich. Der Rote Faden war eine Aktion der Hannover-Werbung (weitere Aktionen: „Der typische Hannoveraner“, „Ach ihr Mädchen von Hannover“, „Das Heimwehpäckchen“ und „Hannover braucht keinen Slogan“).“ [Quelle: Wikipedia]

„Der Rote Faden entstand in enger Zusammenarbeit zwischen der Agentur und Hans von Gösseln, dem damaligen Leiter des Amtes für Verkehrsförderung. Zur Eröffnung des Roten Fadens gab die Stadt die Broschüre Der Rote Faden von Hannover heraus, die von Harry Rowohlt zusammen mit seinem langjährigen Weggefährten, dem Hannoveraner Ingenieur Herrmann Hettche, im Auftrag der Agentur GGK verfasst worden war. Ein dem Roten Faden ähnliches Konzept war der seit 1958 bestehende vier Kilometer lange Freedom Trail in Boston. Später wurde der Rote Faden von weiteren Städten kopiert.“ [Quelle: Wikipedia]

Aktuelles Material zum Roten Faden

Alle Informationen zur aktuellen Version des Roten Fadens, inklusive eines 360-Grad-Rundgangs und Kartenmaterials, finden Sie auf der Website Visit Hannover der Hannover Marketing und Tourismus GmbH.

Kunst umgehens Geburtstagsgeschenk für den Roten Faden

Anlässlich des Jubiläums haben wir drei hannoversche Autor*innen gebeten, uns neue Orte für einen alternativen Roten Faden vorzuschlagen, alternative Orte, abseitige, unwahrscheinliche, unentdeckte, poetische – oder altbekannte, profane, alltägliche mit neuen Perspektiven aufzuladen. Wir haben sie um assozialtive, literarische Beschreibungen dieser Orte gebeten: durch Texte und ergänzende Videos oder Fotos.

Hartmut El Kurdi, Jan Fischer und Selene Mariani repräsentieren drei Generationen der hannoverscher Literaturszene. Ihre Perspektiven auf die niedersächsische Landeshauptstadt sind so unterschiedlich wie ihre Wege dorthin: von Bremen über Toulouse in Frankreich, von Verona in Italien über Dresden oder von Amman in Jordanien und London in Großbritannien über Kassel. Wir stellen sie Ihnen mit Fotos und Kurzbiografien am Ende dieses Beitrags ausführlicher vor.

Der erste neue Ort für den Roten Faden

Hartmut El Kurdi:
Bremer Damm zwischen Wilhelmshavener Straße und Moorwegsgasse

[Foto: Hartmut El Kurdi]

Link zu Google Maps:
Der von Hartmut El Kurdi vorgeschlagene Ort befindet sich hier.

Hartmut El Kurdi:

Under the Bridge

Man hat zwar das Gefühl, sich unter einer Brücke zu befinden, aber technisch gesehen ist das Teilstück des Bremer Damms zwischen Wilhelmshavener Straße und Moorwegsgasse natürlich keine Brücke. Sondern eine Hochstraße – ein Infrastrukturphänomen, von dem es in der autogerechten Stadt Hannover einige gibt. Mehr als andernorts. Auch wenn eine der schönsten Hochstraßen, die am Aegidientorplatz, 1998 leider abgerissen wurde.

Hochstraßen verpassen der Welt eine zweite, höhere Ebene. So wie die gute alte Passarelle und die U-Bahn der Stadt Hannover einen Keller bescheren.  Oben – wenn man auf ihnen fährt – sind Hochstraßen ein bisschen wie fliegen. Und auf eine paradoxe und faszinierend altmodische Art „modern“. So als befinde man sich in einem Science-Fiction-Film aus den 1960ern, in dem auf dem Boden wie gehabt Autos und Fußgänger insektenartig herum krauchen,  eine Etage höher aber der coole „state-of-the-art“-Verkehr stattfindet: umherzischende Flugtaxis und schwebende Menschen mit düsengetriebenen Flugrucksäcken.

Unter der Hochstraße, speziell unter dieser, herrscht eine uneindeutige Atmosphäre. Man fühlt sich gleichzeitig sicher und unsicher. Gibt es einen Wolkenbruch, blitzt und donnert es oder droht die die klimawandelgebeutelte Sonne das Hirn zu versengen, findet man unter der Hochstraße Schutz und Schatten. Hört man jedoch die Autos darüber rattern und rauschen und stellt man sich zudem die LKWs, SUVs und Reisebusse vor, die neben den Kleinwagen tonnenschwer die Betonpfeiler belasten, erinnert man sich daran, dass kein Bauwerk ewig hält. Und man denkt an die Asterix-Comics, in denen die Gallier nur eine Angst haben: Dass ihnen der Himmel auf den Kopf fällt.

Außerdem verdunkelt der Bremer Damm die Welt. Eigentlich ist man draußen, drum herum scheint vielleicht die Sonne, auf der einen Seite fließt die Leine, auf der anderen stehen Studierendenwohnheime im Grünen – unter der Hochstraße aber fühlt man sich wie in einer Tiefgarage. Es würde einen nicht wundern, zumindest nicht in der einsetzenden Abenddämmerung, wenn „Deep Throat“ hinter einem Pfeiler hervorträte und einem HAZ-Volontär unbekannte Details aus der hannoverschen Rathausaffäre zuraunte. Der Tiefgarageneffekt entsteht aber nicht nur durch die Verschattung und den Beton, sondern auch, weil hier ganz real geparkt wird.  Neben ein paar PKWs stehen hier vor allem: Wohnmobile und Wohnwagen aller Art. Schicke neue, aber auch alte runtergerockte: umgebaute Bullis und Feuerwehr-Vans. Eine Zeitlang war hier auch ein „Little Home“ abgestellt, eine der drei Quadratmeter kleinen Wohnboxen, mit denen Obdachlose vor dem Erfrieren bewahrt werden sollen – die traurige, aber vielleicht notwendige Armutsvariante des asketischen Lifestyle-Trends „Tiny House“.

Wer wie ich einen Fernseher als Erziehungsberechtigten hatte und mit amerikanischen Filmen und TV-Serien aufwuchs, für den hat der Raum unter der Hochstraße zwangsläufig eine „Trailerpark“-Anmutung. Trailerparks nennt man in den USA die Wohnwagen-Siedlungen, in denen viele ärmere Menschen nicht campen, sondern dauerhaft leben müssen. Weil es billiger ist, einen Trailer zu mieten oder zu kaufen als eine Wohnung oder ein Haus.  Der erste Trailer-Bewohner, der mir medial begegnete, war in den 1970er Jahren James Garner in seiner Rolle als Detektiv Rockford, der nach einem Gefängnisaufenthalt in seinem „mobile home“ – das allerdings am Strand von Malibu stand und nicht in einem Trailerpark – nicht nur wohnte, sondern auch eine Detektei betrieb: „Anruf genügt!“. Seitdem denke ich: Warum nicht? Wozu braucht man Häuser? Wenn man in einer beengten 2-Zimmer-Sozialwohnung aufwächst, ist dieser Gedanke vielleicht auch naheliegender, als wenn man in einer zwei-etagigen Doppelhaushälfte mit Garten groß wird. Der Unterschied zwischen Zweiraum-Platte und Wohnwagen ist nicht so riesig. Zumindest war er dies in meiner Vorstellung nicht. Nur dass Wohnwagen/Wohnmobile für mich stets – durch ihre Räder, Motoren oder Anhängerkupplungen – ein zusätzliches Freiheitsversprechen in sich trugen. Es ist die „Heute hier, Morgen dort“-Aura, die auch Zirkus- und Roma-Wagen umgibt – und die natürlich ein romantisierendes, kitschiges Klischee ist. Wie jedes Klischee hat aber auch dieses vermutlich einen wahren Kern. Und ich vermute, dieser Klischee-Kern, die immerhin vorhandene reale nomadische Option, treibt viele Wohnmobilbesitzer zum Kauf ihres Gefährts. Man könnte ja, wenn man wollte…. Morgen schon ….

Der zweite neue Ort für den Roten Faden

Jan Fischer:
Ihmestufen

[Foto: Jan Fischer]

Link zu Google Maps:
Der von Jan Fischer vorgeschlagene Ort befindet sich hier.

Jan Fischer:

Ihmestufen

Die weinroten Stufen der Wendeltreppe erinnern mich an Paris. In Paris habe ich meine Höhenangst entdeckt. Das heißt, eigentlich habe ich keine Höhenangst, Höhen machen mir nichts aus. Es sind Strukturen. Metallstrukturen. Stufen, durch die man hindurchschauen kann, unter den Füßen, meinen Füßen, die sie Stück für Stück hinaufschleichen, eine Leere, in die es leicht wäre, hineinzufallen.

Auf der zweiten Ebene des Eiffelturms gibt es eine kleine Snackbar. Auf der obersten einen Champagnerstand. Ich habe es immer nur bis zur ersten Ebene geschafft. Dort gibt es gar nichts, außer einer Aussicht, die, aber das kann ich nur vermuten, weiter oben noch besser sein muss. Wenn es windig ist, schwankt der Turm. Ich weiß nicht, ob ich es bei Wind überhaupt bis zur ersten Ebene geschafft hätte.

Die Wendeltreppe liegt über dem Wasser. Die grau-braune Suppe der Ihme, über die bei gutem Wetter die Kanuten gleiten. Ich wollte immer Kanut sein, der, der vorne sitzt, nicht rudern muss sondern immer nur den Rhythmus ruft. Stelle ich mir lustig vor. Die rosa Stufen ziehen sich, man kann bis zum Wasser hinunterschauen, die Farbe blättert mir unter den Händen ab, unterm Weinrot liegt der Rost.

Es ist wie mit dem Eiffelturm. Vermutlich schwankt die Treppe auch im Wind. Es ist nicht windig. Die Treppe hängt außen am Gebäude. Sie wird nur von ein paar Verbindungsstellen gehalten, rostiges Gestänge in bröckelndem Beton. In meinem Kopf fallen solche Strukturen immer. Ich lande inmitten von Jahrhundertwende-Stahl auf dem Pariser Straßenpflaster. Ich sinke in Gesellschaft von rostigen, weinroten Metallteilen ins grau-braune Wasser, das träge das Ihme-Zentrum umfließt.

Aber ich komme immer oben an. Oben gibt es immer irgendwas. Vielleicht keine Snacks, keinen Champagner. Aber am Ende der Angst liegt zumindest eine Plattform. Irgendein Ausblick, etwas, über das der Blick schweifen kann.

In Filmen ist in Paris aus jedem Fenster der Eiffelturm zu sehen. Das ist natürlich Blödsinn. Aber selbst auf der ersten Plattform ist es, als könne man von dort aus jedes Fenster der Stadt sehen. Die Stadt sehen, die unter einem liegt.

Die Plattform am Ende der weinroten Wendeltreppe liegt nicht über der Stadt, man blickt nicht auf sie hinab, man blickt nicht in alle Fenster gleichzeitig. Die Plattform liegt mit der Stadt auf Augenhöhe. Eine ruhige Augenhöhe, die leisen Rufe der Kanuten, das metallische Gleiten der Bahn, die über die Brücke fährt, der Geruch der Grills auf der anderen Flussseite. Kirchtürme, die sich aus dem Grilldunst erheben, angegrünte Kupferdächer, Hochhäuser, Türme, Wahrzeichen hinter den Baumwipfeln.

Die Aussicht erinnert mich an Paris. In Paris habe ich meine Höhenangst entdeckt. In Hannover habe ich gelernt, dass es sich lohnt, sie zu überwinden.

[Jan Fischer: Ihmestufen]

Der dritte neue Ort für den Roten Faden

Selene Mariani:
Yıldırım Frischmarkt in Linden-Nord

Link zu Google Maps:
Der von Selene Mariani vorgeschlagene Ort befindet sich hier.

Selene Mariani:

Bis morgen

Überall sonst heißt es: Oh nein, ich muss noch einkaufen gehen – die Leute zwingen sich einmal die Woche in den Supermarkt, packen ihren Wagen voll und zu Hause im Kühlschrank klebt das Käsepapier hinten fest und die Möhren kriegen blaue Flecken.

Hierhin komme ich jeden Tag. Ich nehme ein Brot mit, eine Nektarine und vielleicht ein Stück frischen Schafskäse – mehr nicht, weil ich morgen wiederkomme.

Überall sonst muss ich auf die Zeit achten: Dass ich den Text rechtzeitig abgebe und nicht vergesse, vor Ladenschluss das Buch abzuholen. Dass ich endlich die Nachricht des Freundes beantworte, die mir immer in den ungünstigsten Momenten wieder einfällt. Dass ich die eine Großmutter oft genug anrufe und die andere selten genug.

Hier kann ich sonntagabends oder montagmorgens vorbeikommen und alles ist wie immer: Drinnen Milch, Schnaps und Hefe, draußen Kisten voller Austernpilze, Nektarinen und Auberginen. Davor: eine Biertischgarnitur, vor der Straße geschützt durch einen Zaun aus Kräutern.

Ich kann zwei Minuten bleiben oder zwei Stunden. Ich kann mich an den Tisch setzen und die Kräuter ansehen, die in frischem Wasser baden, bis meine Beine unruhig werden und nach Hause laufen möchten. In meiner Wohnung erst, beim auf die Uhr schauen, ist Zeit vergangen.

Überall sonst muss ich sogar meine Traurigkeit planen – wenn ich eine Freundin anrufe und sage: Mir geht es schlecht, antwortet sie: Jetzt passt es schlecht, kann ich in vier Stunden zurückrufen?

Dann ziehe ich die Schuhe an, laufe hierhin. Ich sage ein Wort oder keins, und jemand hält mir eine Linsensuppe hin, ich sitze hinter den Kräutern und wärme meine Hände an der Schüssel.

Während ich meine Suppe esse, schaue ich die Leute an, die es allesamt so machen wie ich: Sie kaufen wenig, einen Apfel, eine Packung Milch, trotzdem bleiben sie so lange wie möglich, besonders die älteren.

Eine kleine faltige Person bleibt neben den Kräutern stehen, reibt ein Minzblatt und hält die Zitterfinger an ihre Nase.

Dann kommen die Yıldırıms raus, sie sagen: Geht’s Ihrer Enkelin besser, Frau Soundsu oder Haben Sie schon die Tomaten probiert, der Lieferant hat neue gebracht, Sie mögen doch so gern Tomaten. Und Frau Soundsu setzt sich zu mir an den Biertisch und probiert Tomaten und hin und wieder hält sie sich ihren schiefen, zittrigen Zeigefinger vor die Nase.

Überall sonst sprechen sie über Zusammenhalt und Gastfreundlichkeit so wie sie über Politik sprechen – aus sicherer Entfernung.

Hier stellen die Yıldırıms noch eine Bank an den Tisch, damit alle Platz haben. Auf einem Haufen neben uns stapeln sich Rucksäcke und Taschen mit Laptops und Handys und To-Do-Listen. Vielleicht blinkt da etwas oder verlangt klingelnd nach Aufmerksamkeit – wir sitzen hier und vergleichen Tomatensorten.

Irgendwann geht die Sonne unter und den ersten fallen wieder ihre Handys oder Listen ein, sie nehmen ihre Taschen und halbvollen Einkaufstüten und laufen nach Hause. Ich packe Brot, Nektarine und Schafskäse ein, ich winke der Frau mit den Zitterfingern und den Yıldırıms.

Und ich denke: Überall sonst muss ich Abschiede können. Hier sage ich: Bis morgen.

Die Autor*innen:

[Hartmut El Kurdi – Foto: Katrin Ribbe]

Hartmut El Kurdi wurde in Amman/Jordanien geboren und wuchs in London und Kassel auf. Er studierte Kulturwissenschaften und arbeitet als Autor, Regisseur, Dramaturg, Musiker und Performer. Er schreibt Theaterstücke, Hörspiele und für die taz, DIE ZEIT und verschiedene Stadtmagazine journalistische und satirische Texte. Sein Hörspiel Angstmän wurde mit dem Deutschen Kinderhörspiel-Preis ausgezeichnet. Sein 2017 am Schauspiel Hannover als Ko-Produktion mit der Agentur für Weltverbesserungspläne produzierte Stück HOME.RUN (Regie: Ulrike Willberg) wurde mit dem pro visio-Preis ausgezeichnet und zum BEST OFF-Festival in Hannover und zu den Lessingtagen am Thalia-Theater in Hamburg eingeladen. Im September 2020 hat sein neues Stück für junge Zuschauer*innen am Staatstheater Braunschweig Premiere: Clevergirl.

[Jan Fischer – Foto: Simona Bednarek]

Jan Fischer, geboren 1983, aufgewachsen zwischen Bremen und Toulouse. Studierte Kreatives Schreiben und Kulturjournalismus in Hildesheim. Als freier Journalist arbeitet er lokal und überregional, on- und offline, u.a. für nachtkritik.de, die Deutsche Bühne, die Hannoversche Allgemeine Zeitung und die WASD. Kurzgeschichten sind in Literaturzeitschriften und Anthologien zu lesen. Buchveröffentlichungen beinhalten: Leere Zeiten (Roman), autumnus, 2020; Ihr Pixelherz (Novelle), mikrotext 2015; Ein Ort: Bahnhof (Essay), mikrotext, 2018; Ready. Wie ich mit digitalen Spielen erwachsen wurde (Essay), Hanser, 2016. Redakteur der Website Spiel des Jahres, Lehrender für Kulturjournalismus an der HBK Braunschweig und international bekannter Luftgitarrist.

[Selene Mariani – Foto: Sebastian Düvel]

Selene Mariani (*22.06.1994) wuchs in Verona und Dresden auf.
Im Rahmen ihres Studiums am Literaturinstitut Hildesheim entstand ihr Romanmanuskript Ellis. Darin beschäftigt sie sich mit ihren Kernthemen:
der Frage nach Zugehörigkeit und kultureller Identität als Halbdeutsche, Halbitalienerin.
Aktuell arbeitet sie an dem Erzählband Miniaturen in Blau. Sie ist auch als Leiterin von Schreibwerkstätten aktiv.
Selene Mariani wurde für den Literaturpreis Prenzlauer Berg, den Berliner Hörspielpreis sowie den Hannoveraner Autor*innenpreis KURT nominiert und veröffentlichte in Anthologien.

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