27. September 2020 – Überblick: Kunst und Jubiläum
So. 27.09. | 12.00 (bleibt digital verfügbar)
Kunst umgehen: Überblick
Überblicksführung
Kunst und Jubiläum
Am 1. September jährte sich der Beginn des hannoversche Straßenkunstprogramms (auch Experiment Straßenkunst genannt) zum 50. Mal. Dieser digitale Überblick zeigt, welche Objekte bis heute im Stadtraum davon erzählen, welche auf eine Restaurierung oder Neuaufstellung warten – und wie sich die Perspektiven mit der Zeit verschoben haben. Welche Visionen von Stadtraum und -gesellschaft waren in den Siebzigerjahren aktuell, wie schlug sich das in Kulturpolitik und künstlerischem Handeln nieder?


Wenn Sie auf diesen Link klicken, gelangen Sie zu einer Seite der Hochschule Hannover, auf der diese den knapp 30minütigen, restaurierten Dokumentarfilm Die Kunst geht auf die Straße von Horst Latzke aus dem Jahr 1970 zeigt.



Der hannoversche Künstler János Nádasdy trug folgenden Text zu Kunst umgehens GPS Festakt bei:
„Altstadtfest in Hannover, Eröffnung des Straßenkunstprogramms, 29. August 1970“, so hieß es damals offiziell. Zu Beginn hörte es sich verheißungsvoll an und ich habe mich beworben. Das mit der Straßenkunst hat mich sehr interessiert. Erst später, nach und nach, genau nach dem Lesen eines Artikels im Magazin DER SPIEGEL, erfuhr ich, was da wirklich abgehen sollte: Werbung für die Stadt Hannover! Die Stadt sei nicht attraktiv genug, die Abwanderung der Bevölkerung habe Ausmaße erreicht, die schon die Industrie gefährdeten, hieß es. Oberstadtdirektor Martin Neuffer hat einen Schweizer Imageberater beauftragt, für Hannover eine Werbestrategie zu entwerfen. Riesengaudi mit Kunst ist dabei herausgekommen. Ich habe mich mit einer Aktion beworben – heute hieße es Performance – und ich nannte sie Wohnsperre. Mit meinem Kollegen Jürgen Schneyder war ich der einzige, der als hannoverscher Künstler angenommen wurde.
„Sonnabend, 29. August 1970, um 8 Uhr. Ich richte mich in der „Wohnsperre“, vor dem Niedersächsischen Landtag, auf den Leinewiesen ein.
9 Uhr. Mit Hilfe von meiner Frau Hanna, mit Andre Spolvint und mit Hilfe meiner Schüler des Hannover Kollegs, baute ich einen Käfig von 4 m². Ich schließe mich hier ein und ich werde ihn bis Montag nicht verlassen…“
So steht es im Protokoll, das ich in den zwei Tagen geführt habe. Ich habe mich in der Enge der Wohnsperre wohnlich eingerichtet, gekocht, geschlafen, geschrieben und beim Johlen des Publikums nackt gebadet. Das wichtigste war jedoch die Auseinandersetzung mit dem Publikum. Würstchenbuden, Bierzelte und Musikbands mit der bekannten, ohrenbetäubenden Lautstärke – was sich im Trubel eher als Lärm anhörte – was soll, was kann da noch Kunst? Mit den 4 m² des Wohnkäfigs symbolisierte ich meine Möglichkeiten als Künstler, in Prozesse der Stadtplanung einzugreifen, mitzumachen, zumal in einer Stadt wie Hannover, die im Krieg total zerstört worden war und deren Wiederaufbau noch lange nicht abgeschlossen war. Vor diesem Hintergrund ist die Rolle des Stadtbaurates Hillebrecht in den Nachkriegsjahren der Stadt mehr als zweifelhaft. In seiner Zeit sei nämlich mehr historische Substanz in der Stadt zerstört worden als es in den Bombennächten geschah, heißt es. Die Bildende Kunst kann da, weiß Gott, wenig anrichten.
Martin Neuffers gute Absicht kann heute nicht bezweifelt werden. Es war trotz allem, in vielen anderen Hinsichten, hochinteressant, für mich auf jeden Fall. Kunst so als Werbung einzuspannen, ja, zu missbrauchen, war ein gewagtes Unternehmen, ich glaube, das wusste er und er hat es dennoch gewagt. Es musste was geschehen und er hatte wohl keine andere Wahl. Die Brücke über die Leine am Marstall trägt heute mit Recht seinen Namen. Im Jahr 1974 wurde das Straßenkunstprogramm, nicht nur wegen Mangel an Geldern, eingestellt. Es konnte so nicht funktionieren. Heute, 50 Jahre später, werden Erinnerungen nur von wenigen in dieser Stadt, wie den lieben Menschen vom Projekt Kunst umgehen, gepflegt.
Als Epilog noch dies:
Als LOOK-INN-Thema bei der Neuen Hannoverschen Presse gab es im Januar 1974 eine hochinteressante Diskussion mit dem Titel: Straßenkunst: Wie, wo und warum? Die Teilnehmer der Diskussion, die von NHP-Redakteur Sigi Barth moderiert wurde, waren Gerd Winkler, Timm Ulrichs, Dr. Helmut R. Leppien, Mike Gehrke, Hans-Jürgen Breuste, Heinz Lauenroth u. a. Ein Zeitungsartikel, der daraufhin am 11. Januar in der NHP erschienen ist, trug den Titel Die Straße ist kein Museum und weiter heißt es, „Kunst darf nicht als Propaganda eingesetzt werden“, und dieser Meinung waren FAST! alle.
Aus dem Protokoll:
„Montag, den 31. August 1970, 10.30 Uhr. Ich komme aus dem Käfig heraus. Ich könnte es keine Minute mehr aushalten. Wir beginnen mit der Demontage.„


