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9. Mai 2021 – Kurzbetrachtung: Jeder Mensch

So. 09.05. | ab 12.00 (bleibt digital verfügbar)
Kunst umgehen: Kurzbetrachtung
von Christiane Oppermann

Die Kurzbetrachtungen sind ein neues Format bei Kunst umgehen: Jeweils ein Mitglied des Vermittlungsteams lässt Sie teilhaben an Ideen, Assoziationen, Neuigkeiten und Meinungen zu Kunst in öffentlichen Räumen. Hier ist öffentlicher Raum für individuelle Perspektiven nicht nur auf einzelne Objekte oder Projekte in Hannover und der Welt, sondern auch auf Bezüge, Potentiale oder Defizite.

Jeder Mensch

von Christiane Oppermann

Hat dieser Text etwas mit Kunst und öffentlichem Raum zu tun? Ja, aber …

Darshan mit Amma

Jeder einzelne Mensch, 8 Milliarden einzelne Menschen, ein Kommen und Gehen im stetigen Vermehren, immer wieder neu, unfassbar, unvorstellbar. Ich stelle mir die unendlich vielen und vielgestaltigen Gesichter vor, in denen sich da jeweils einmaliges Leben spiegelt, und erinnere ein persönliches Erlebnis und öffentliches Ereignis an einem halböffentlichem Ort:

Durch sonderbare ‚Fügung‘ wurde mir zuteil, bei einem Darshan, welches  Amma auf einem Hochschulgelände in Chennai abhielt, so nahe bei ihr zu sitzen, dass ich die Blicke der auf sie zukommenden Menschen sehen und tief in mir aufnehmen konnte. Über einen Zeitraum von 24 Stunden umarmte diese besondere Frau zigtausende Menschen – ängstliche, kranke, hoffnungsvolle, hingebungsvolle, leidende, liebende, glückselige, todgeweihte, (…) Menschen, obgleich hier vornehmlich Inder*innen – gemeint: jeden Menschen. In dieser Nacht habe ich erfahren, was „Fenster zur Seele“ meint, und, dass es ein tieferes WIR vor dem ICH und DU gibt, das eine ungeheure Potenz hat.

Etwas modifiziert könnte die Handlung des Umarmens die Vita einer im globalen öffentlichen Raum agierenden Aktionskünstlerin füllen. Bezweifelbar ist, ob ein derartiges Happening die gleiche Tiefenwirkung entfalten könnte…

WIR-Feld-Raum

Wenn WIR gesagt wird, sind meist Menschen im nahen Umfeld gemeint: die Familie, Freund*innen, Gleichgesinnte, (…) oder zunehmend abstrakt vorgestellte Gemeinschaften: WIR, die Künstler*innen, Mitarbeiter*innen, Arbeitnehmer*innen, Unternehmer*innen, Parteigenoss*innen, Gottgläubigen, Kunstliebenden, die Generation X, Y, Z. Und WIR sind sogar eine Weltgemeinschaft, die, um ein Beispiel zu nennen, drängende Klimaziele erreichen muss. Wenn es ums (eigene) Überleben geht, scheinen Menschen gleicher oder zumindest gleichgesinnter zu werden.

Ist das so?

Im Kontext von Pandemie, ausschweifenden Diskursen, gesellschaftlichen und politischen Auseinandersetzungen bahnen sich neue Spaltungen an, die unzählige Gruppen von unterschiedlichst Gleichgesinnten hervorbringen und Ungleichheiten treten noch stärker hervor. Kein schöner WIR in diesem Land? Besser zurück zur ganz normalen „Normalität“? Oder ist diese nicht auch zu fürchten, wenn WIR da weiter machen, wo WIR zuvor waren?

Visionäre Knospenzeit

Bei allem Grauen, Leiden und für viele Menschen beistandslosem Sterben bergen die weltweite Pandemie und deren Folgen auch Chancen zum kreativen Um- und Neudenken. Und tatsächlich sprießen neben Verschwörungstheorien aus den Wirr-Köpfen dieser Welt auch visionäre Ideen für eine bessere Welt aus den WIR-Köpfen dieser Welt. Und nicht zu vergessen: die in ihrer Potenz gegebenenfalls unterschätzten Konzepte verstorbener Visionäre.

Wann oder wie ist es eigentlich passiert, dass „Gutmenschen“ und „Weltverbesserer“ zu Schimpfworten wurden?

Jeder Mensch | Joseph Beuys

Einer der gewesenen Visionäre ist Joseph Beuys. Sein 100. Geburtstag wird am 12. Mai mit vielen, umfangreichen Ausstellungen im ganzen Land gefeiert.

Beuys‘ Hinterlassenschaft oder auch ‚Gabe‘ an die Welt ist nicht zu unterschätzen, was auch die Resonanz jüngerer Künstler*innen zeigt, die mit provokanten, politisch gefärbten Aktionen im öffentlichen Raum agieren. Vor allem in der Bundesrepublik hat Beuys besonders deutlich den Zusammenhang zwischen künstlerischen und politischen Aktivitäten herausgestellt. In diesem Zusammenhang prägte er auch den Begriff der „Sozialen Plastik“, mit dem er die Art und Weise bezeichnete, in der wir die Welt, in der wir leben, formen.

Sein „Jeder Mensch ist ein Künstler“ gibt auf einer symbolischen Ebene zu verstehen, dass jeder Mensch das kreative Potential und damit in gewisser Weise auch die Verantwortung hat, seine Welt zu gestalten. So ging es ihm insbesondere auch darum, Räume zu schaffen, in denen sich Potentiale entfalten können. (In diesem Punkt könnte Schule von heute sich gern ein bisschen bewegen.) Konsequent handelnd besetzte Beuys 1972 mit 80 Student*innen die Düsseldorfer Kunstakademie, um erfolglosen Studienbewerber*innen doch noch zur Aufnahme zu verhelfen. Der Erfolg: fristlose Entlassung.

Ob der Mensch die Welt als Bäcker*in, Lehrer*in, Bäuer*in, Designer*in, … gestaltet, ist für Beuys weniger von Bedeutung, als ein entschiedener Prozess der Bewusstwerdung mit Freilegung der Potentiale. Ein Mensch, der sich in diesem Sinne selbst ermächtigt, ist in der Lage, bewusst die Welt zu gestalten und schafft – so Beuys – eine „Soziale Plastik“. Wer würde sich nicht eine Welt wünschen, in der alle Menschen diesen Prozess schon durchlaufen hätten?

Sehenswert ist in diesem Zusammenhang eine umfangreiche Dokumentation, die unter diesem Link leider nur bis zum 13. Mai in der ARD Mediathek abzurufen ist.

Mögen nachfolgende (Künstler*innen-)Generationen ebenso wie Beuys es tat, weit über den akademischen Tellerrand und anerkannten Kunstkanon hinausschauen und gezielt soziale, ökologische, ökonomische und politische Missstände und Perspektiven befragen, ausloten und in ihr Schaffen einbeziehen.

Jeder Mensch | Ferdinand von Schirach

Wie der Zufall es will, ist Ferdinand von Schirach ebenfalls an einem 12. Mai geboren, nur 43 Jahre später als Beuys. Beide lassen sich – wie Amma auch – mit den Worten „Jeder Mensch“ verbinden und erfahren aktuell erhöhte Aufmerksamkeit.

Während Beuys mit der „Sozialen Plastik“ den Kunstbegriff nachhaltig hinterfragte und erweiterte, zielt der Jurist und Autor Ferdinand von Schirach mit der vom ihm initiierten und kürzlich angelaufenen Kampagne „Jeder Mensch“ auf die Erweiterung der Grundrechte in Europa. Eine politische Aktion im digitalen Raum.

Ob die sechs neuen Grundrechte hinreichend komplex formuliert sind, vermag ich nicht zu beurteilen. Die Dringlichkeit, die bestehenden Grundrechte zu erweitern, um alten und neuen Missständen und Notlagen entgegenwirken zu können, ist jedoch unbestreitbar. Hier ein Auszug aus der Internetseite zur Kampagne:

Wir fordern sechs neue Grundrechte
Ein Verfassungskonvent soll die Charta der Grundrechte der Europäischen Union um folgende Grundrechte erweitern:
Artikel 1 – Umwelt
Jeder Mensch hat das Recht, in einer gesunden und geschützten Umwelt zu leben. 
Artikel 2 – Digitale Selbstbestimmung
Jeder Mensch hat das Recht auf digitale Selbstbestimmung. Die Ausforschung oder Manipulation von Menschen ist verboten. 
Artikel 3 – Künstliche Intelligenz
Jeder Mensch hat das Recht, dass ihn belastende Algorithmen transparent, überprüfbar und fair sind. Wesentliche Entscheidungen muss ein Mensch treffen. 
Artikel 4 – Wahrheit
Jeder Mensch hat das Recht, dass Äußerungen von Amtsträgern der Wahrheit entsprechen.
Artikel 5 – Globalisierung
Jeder Mensch hat das Recht, dass ihm nur solche Waren und Dienstleistungen angeboten werden, die unter Wahrung der universellen Menschenrechte hergestellt und erbracht werden. 
Artikel 6 – Grundrechtsklage
Jeder Mensch kann wegen systematischer Verletzungen dieser Charta Grundrechtsklage vor den Europäischen Gerichten erheben.“
(www.jeder-mensch.eu/informationen)

Nun sind Sie dran!

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