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16. Mai 2021 – Kurzbetrachtung: Wahrnehmen, Wissen und Erinnern

So. 16.05. | ab 12.00 (bleibt digital verfügbar)
Kunst umgehen: Kurzbetrachtung
von Anna Grunemann

Die Kurzbetrachtungen sind ein neues Format bei Kunst umgehen: Jeweils ein Mitglied des Vermittlungsteams lässt Sie teilhaben an Ideen, Assoziationen, Neuigkeiten und Meinungen zu Kunst in öffentlichen Räumen. Hier ist öffentlicher Raum für individuelle Perspektiven nicht nur auf einzelne Objekte oder Projekte in Hannover und der Welt, sondern auch auf Bezüge, Potentiale oder Defizite.

Wahrnehmen, Wissen und Erinnern

von Anna Grunemann

Ich sage es gleich – ich bin ein Fan von Leerstand, leeren Räumen, Räumen, die ihr Gelebtsein ausstrahlen, denen man die Strapazen der Vergangenheit ansieht, die ihre Geschichte mit sich herumschleppen und für den Betrachter lesbar sind wie ein Buch. Zumindest als Künstlerin inspirieren mich solche Orte, da ihnen ein Potential verschiedenster Möglichkeiten anhaftet.

Wenn nun der öffentliche Raum immer wieder poliert und zuweilen auch neu möbliert wird, dann bin ich oft skeptisch, was dabei herauskommt. Das liegt auch daran, dass hin und wieder Gremien die Entscheidungen über Neuplatzierungen treffen, die sich stärker um die geschmackvolle Ausgestaltung öffentlicher Räume bemühen als um echte ästhetische Auseinandersetzung. Dabei ist festzustellen, dass man sich über Geschmack nun wirklich streiten kann. Unstrittig sollte aber sein, dass Kunst keine Frage des Geschmacks sein darf, sondern der Aussage und ihrer qualitativen Anknüpfungenmöglichkeiten an den mit jeweils eigenen Bedingtheiten ausgestatteten öffentlichen Raum verhaftet sein muss. Und hier bin ich schon mitten auf dem verminten Territorium, welches ich auch nur als Gegenstück der Medallie erwähnen und damit ruhen lassen will.

Wenn Kunst in die Jahre kommt

… und zunehmend schrabbelig aussieht, dann schmerzt mich das – obwohl ich diesen im öffentlichen Raum verbleibenden Werken von Ewigkeit nicht immer ihr stoisches Überdauern gönnen würde. Neben solchen Sentimentalitäten, auf deren Ursachen ich hier keinen weiteren Gedanken verschwenden will, ist meines Erachtens unstrittig, dass temporäre, also vorübergehende Kunstprojekte im öffentlichen Raum gemessen an den Aufwendungen an Kraft und Geld einen weit größeren Effekt haben, als das dauerhaft vor Ort installierte Kunstwerk. Wobei ich keineswegs den Wert der Kunst und ihrer Aussage gegen die Kosten der Arbeit oder ihrer Unterhaltung aufwägen möchte. Die endlosen Diskussionen über die Sanierung von Schulen versus den Ankauf von Kunstwerken für die Allgemeinheit gehen ohnehin in der Regel an der Sache vorbei und befeuern allenfalls mittelmäßigen Geschmack.

Dabei wird meist eines vergessen, wenn nicht verschwiegen: Wären wir in dieser Welt der durchsanierten Schulen, Schwimmbäder und anderen Anstalten zur Lebensertüchtigung und Freizeitgestaltung zugunsten des Unterbleibens jeder Förderung von Kunst und Kultur, müssten wir uns wohl noch hinter den kommunistisch diktierten Völkern einreihen, die sich zumindest an ihrer Propagandakunst aufrichten sollen und reiben können. Wir würden ein wirklich jämmerliches Durchschnittsdasein fristen. Dieses Gedankenexperiment würde weit über das Format einer Kurzbetrachtung hinaus führen. Lassen wir also auch das.

Was ist also der Vorteil der temporären Kunst?

Vermutung:
Vielleicht hat es damit zu tun, dass diese auf kurzzeitige Präsentation angelegte Kunst eben auch selten schrabbelig werden kann, weil ihr dazu einfach die Zeit fehlt. Sie kann auch nicht an der gerade erfahrenen Situation und Zeit vorbeigehen, wie es so einigen, einem vergangenen Zeitgeschmack entsprechenden Sockelkunstwerken in deutschen Innenstädten ergeht.

Erwartung:
Von einem temporär angelegten Kunstwerk erwarte ich geradezu ein heftiges Aufblitzen, ein Geblendetwerden und das Beleuchten einer Situation des Zeitgeschehens. Und damit wir alle wieder beruhigt den Dingen unseres Alltags nachgehen können, müssen diese Auslöser dann auch wieder weg.

Das Echo:
Doch dann beginnt etwas Merkwürdiges: Wir erinnern uns der Dinge, die da für kurze Zeit kommentierten und ankoppelten. Das heißt, die Kunst, obwohl schon längst verschwunden, bleibt mit dem Ort verhaftet. Da gibt es sicher Werke, die wir vergessen, weil sie vielleicht doch nicht so ein Blitzen in sich trugen, oder die, welche die einen vergessen und andere sehr wohl erinnern. Nicht immer muss das heißen, dass die Qualität dieser erinnerten Werke wirklich so viel höher angesiedelt sei, als die der vergessenen Werke und umgekehrt. Doch dieses Erinnern an sich hat eine besondere Qualität, die kaum damit zusammenhängen dürfte, dass wir die Kunstwerke nicht altern sehen.

Die Holliger Wendung

In diesem Zusammenhang fällt mir das nicht realisierte Konzept Das Holligen Steinewenden von Helmut Dick (der in Amsterdam lebt und arbeitet) für den Berner Stadtteil Holligen ein. Hier hatte er die Idee, die im Stadtteil aus ästhetischen und praktischen Gründen verteilten Findlinge mit Gedanken der Bürger*innen des Stadtteils aufzuladen. Schon die von ihm in den Blick genommenen Findlinge entzünden eine erinnerungswürdige Diskussion. Im Stadtteil wurden die Konzepte von einer Anwohner*innenjury diskutiert. Der erste Schritt sollte das „Steinewenden“ sein. Auch dieser Begriff erzeugt bei mir ein Feuerwerk innerer Bilder. Nicht so elegant wie beim Plinsewenden, sind diese Handlungen eher ächzend, mit Willenskraft etwas bewegen zu wollen ausgestattet. (Plinsen sind im Ostmitteldeutschen Eierkuchen.)

Nach der „Wendung“ (auch schön, dass hier die Wendung einer Situation mitschwingt) wird auf die Unterseite des Findlings ein Schriftzug eingraviert, der davon anhängig ist, wie die Leute von Holligen so ticken. Der Künstler weiß also im Vorfeld gar nicht genau, was da für Statements zusammenkommen werden. Und am Ende, wenn die gravierten Findlinge abermals gewendet werden und nun wieder, als wäre nichts gewesen, an ihrem Platz liegen, ist es doch so, dass aus dem Wissen um den Vorgang eine neue Sicht auf das Areal erwächst, die unsere Wahrnehmung kolossal beeinflusst. Diese Differenz, zwischen dem, was da wirklich zu sehen ist, und dem, was unsere Wahrnehmung auf der Grundlage von Erinnerung und Wissen an unser Gehirn funkt, ist doch fast immer beeindruckender als es ein Kunstwerk sein kann, das immer sichtbar ist. Und interessanterweise reicht meinem Gehirn hier die pure Vorstellung der Arbeit.

Ich habe keine Ahnung, wie Holligen aussieht und wie die Hollinger ticken. Aber wenn ich demnächst einen Findling sehe, werde ich wohl an das gedachte „Steinewenden“ von Helmut Dick denken. Und das dürfte hier in Brandenburg im Endmoränenland ziemlich oft passieren.

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