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30. Mai 2021 – Kurzbetrachtung: Im Wartezimmer der Urbanen Praxis

So. 30.05. | ab 12.00 (bleibt digital verfügbar)
Kunst umgehen: Kurzbetrachtung
von Thomas Kaestle

Die Kurzbetrachtungen sind ein neues Format bei Kunst umgehen: Jeweils ein Mitglied des Vermittlungsteams lässt Sie teilhaben an Ideen, Assoziationen, Neuigkeiten und Meinungen zu Kunst in öffentlichen Räumen. Hier ist öffentlicher Raum für individuelle Perspektiven nicht nur auf einzelne Objekte oder Projekte in Hannover und der Welt, sondern auch auf Bezüge, Potentiale oder Defizite.

Im Wartezimmer der Urbanen Praxis

Ein Tagungszwischenbericht

von Thomas Kaestle

Die Verwaltung der Stadt Hannover fordert ihre Bürger*innen auf, die Innenstadt neu zu denken. Im Innenstadtdialog soll es im Sommer in Beteiligungsformaten darum gehen, wie aus einem angeschlagenen Konsumraum, der spätestens seit der aktuellen Pandemie zum Durchgangsraum zu verkümmern droht, ein attraktiver Aufenthaltsraum werden könnte. Zugleich könnte sich dieser zu einem Ort gemeinschaftlichen Aushandelns von Stadt entwickeln, zu einem Diskurs-, Handlungs- und Spielraum – und so auch ohne den Titel einer Kulturhauptstadt zu einer im entsprechenden Bewerbungsbuch skizzierten Agora. All dies kann nur gemeinsam gelingen. Es gilt also, nicht nur möglichst viele und unterschiedliche Bürger*innen mit einbeziehen, sondern auch möglichst viele Disziplinen.

Selbstverständlich soll und muss dazu auch die Kunst zählen – Hand in Hand mit anderen Fachperspektiven. In den vergangenen Jahren hat sich ein Begriff für solch ein transdisziplinäres Nachdenken über Stadt etabliert: Vor allem in Berlin nimmt der Diskurs um Urbane Praxis Fahrt auf. An diesem Wochenende findet dazu die Werkstattkonferenz Situation Berlin #1 statt, veranstaltet vom basisdemokratisch organisierten Kunstverein neue Gesellschaft für bildende Kunst (nGbK) als Teil der Initiative Urbane Praxis und in Fortsetzung des Symposiums Urbane Kulturen, das die nGbK im Jahr 2019 in Kooperation mit der Berlinischen Galerie veranstaltete.

„Wie formuliert sich ein Recht auf Stadt ohne Rechthaberei?“

Während dieser Text am Sonntag erscheint, werden Teilaspekte der Urbanen Praxis an digitalen runden Tischen diskutiert. Am gestrigen Samstagabend wurde jedoch zunächst der Begriff an sich kritisch hinterfragt. In der Ankündigung heißt es: „Wer macht Stadt, und mit welchen Kulturen? Wie formuliert sich ein Recht auf Stadt ohne Rechthaberei?“ Markus Bader, einer der Initiatoren der Initiative Urbane Praxis, Gründungsmitglied des Büros raumlaborberlin und Professor am Institut Architektur und Städtebau der Universität der Künste Berlin, erklärt, die Initiative sei aus der AG Stadtentwicklung im Berliner Rat für die Künste hervorgegangen, einer freien Interessenvertretung von Künstler*innen, Kulturinstitutionen und Kulturwirtschaft.

Bader erläutert: „Der Begriff der Stadtentwicklung erschien uns zu groß für das Anliegen – darin geht verloren, was Kunst konkret dazu beitragen kann.“ Einige Aspekte seien aber für alle beteiligten Disziplinen von Bedeutung, zum Beispiel die Frage nach der Gestaltungsqualität von Stadt als kollektivem Prozess oder jene nach Inklusion: „Urbane Praxis braucht offene Strukturen, die weitere Zugänge zur gemeinsamen Stadtproduktion herstellen.“ Annette Maechtel, Geschäftsführerin der nGbK und Autorin des Buchs Das Temporäre politisch denken: Raumproduktion im Berlin der frühen 1990er Jahre, nähert sich der Urbanen Praxis historisch. Auch wenn im Berlin der 1990er Jahre der Begriff noch keine Rolle gespielt habe, habe es doch eine besondere Übergangssituation geboten, in der eine postdisziplinäre Praxis gedeihen konnte.

Vom erweiterten Kulturbegriff zum Stadtmarketing

Maechtel nennt Kunst, Soziokultur, Bildungskritik, Stadtentwicklung, Neue Medien, Clubkultur, Geschichtsschreibung, Verwaltung und Politik als Akteure und Faktoren, die gemeinsam ein Narrativ von Freiräumen schufen und mit Leben erfüllten. Gerade in den östlichen Bezirken der Stadt habe ein erweiterter Kulturbegriff den niedrigschwelligen Zugang zu brachliegenden Räumen ermöglicht, so Maechtel. Vereine und Initiativen seien nicht aus Kulturhaushalten gefördert worden, sondern durch Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen, die auf Personal und Investitionen abzielten. Während ein Einfluss auf größere Stadtentwicklungsprozesse unmöglich gewesen sei und die Senatspolitik den „Wildwuchs“ vieler Initiativen als Behinderung ihres Masterplans einer immobilienfreundlichen Blockrandbebauung betrachtet habe, sei eine Beteiligung der Bürger*innen am neuen Berlin im Kleinen gediehen.

Nach der Jahrtausendwende habe die Auseinandersetzung mit einem urbanen, kreativen Lebensgefühl jedoch deutlich mehr Beachtung gefunden, so Maechtel. Zwischen 2001 und 2003 fragte das durch die Europäische Union finanzierte Forschungsprojekt Urban Catalyst in fünf europäischen Metropolen – unter anderem in Berlin – nach Strategien temporärer Nutzungen und deren Potentialen für Reurbanisierungs- und Innovationsprozesse, Imagebildung und Zugänge zu Ressourcen und Netzwerken. Im Jahr 2007 veröffentlichte die Berliner Senatsverwaltung für Stadtentwicklung und Umwelt die Publikation Urban Pioneers als Einblick in den Diskurs um Zwischennutzungen. Die Urbane Praxis begann, zu einem Faktor von kommunaler Selbstdarstellung und Stadtmarketing zu werden

Handlungs- und Anschlussfähigkeit

Auch Elisa T. Bertuzzo Honorarprofessorin für Raumstrategien an der Kunsthochschule Weißensee, weist auf die Gefahr der Instrumentalisierung Urbaner Praxis hin – und auf die einer Institutionalisierung und Erstarrung im Rahmen einer Festlegung auf Best-Practice-Strategien. Umso mehr Offenheit erwartet Barbara Meyer, Leiterin des JugendKunst- und Kulturhauses S27 in Kreuzberg, von der Initiative Urbane Praxis, die auch sie im Rat für die Künste mit initiierte: „Die Initiative ist ein Kreuzungspunkt, keine exklusive Gemeinschaft.“ Eine Praxis des Ausprobierens sei wesentlich. Für spontanes Handeln in Stadtlaboren sei die Berliner Verwaltungsstruktur mit vielen unterschiedlichen Zuständigkeiten meist zu komplex: „Es gibt noch keine geschnürten Bewilligungspakete.“ Gerade die Pandemie habe dringende Handlungsbedarfe im Sozialen aufgezeigt, so Meyer: „Wir dürfen bestimmte Orte nicht aus der Stadtgesellschaft ausschließen.“

Renée Tribble stimmt zu: „Potentiale werden oft nicht genutzt, weil die Strukturen in den Verwaltungen nicht handlungs- oder anschlussfähig sind.“ Oft scheint dort auch die Angst vor Festlegung und Verantwortung zu groß. Tribble ist Architektin und Gründungsmitglied des Hamburger Beteiligungs-Kollektivs Planbude und wurde vor kurzem als Professorin für Planungstheorie und Planungsmethodik an die Detmolder Schule für Architektur und Innenarchitektur der Technischen Hochschule Ostwestfalen-Lippe berufen. Ihre Dissertation Reizungen und Reaktionen: Kunst und Planung ist soeben an der HafenCity Universität Hamburg erschienen. Sie stellt fest: „Nach über 20 Jahren, in denen Zwischennutzungen auch bei Stadtverwaltungen zu neuen Perspektiven auf Urbane Praxis geführt haben, müssen diese anfangen, neue Räume und Praxen zu ermöglichen.“

„Wie lässt sich so eine ziellose Praxis fördern?“

Urbane Praxis gerate zu schnell in Kosten-Nutzen-Rechnungen, so Tribble. Es sei für die anderen Disziplinen wichtig, zu verstehen, dass Künstler*innen anders arbeiten und eine Zusammenarbeit gerade deshalb fruchtbar sei. Planer*innen und Architekt*innen seien nun einmal keine Künstler*innen – sie könnten aber eine Übersetzung von Perspektiven für Verwaltungen leisten und so manche Dinge verständlicher machen. Es sei wichtig, Räume und Ergebnisse zu öffnen, so Tribble: „zu wissen, dass Prozesse wertvoll sind, aber nicht, was dabei herauskommt“. Künstler*innen seien gerade nicht auf eine Auftragserfüllung angewiesen, handelten in anderen Narrativen. „Wie lässt sich so eine ziellose Praxis fördern?“, stellt Tribble eine wesentliche Herausforderung für Kultur- und Baupolitik heraus. Dabei gehe es zunehmend um eine Prozess- nicht um eine Projektförderung.

Sie weiß aus ihren aktivistisch-kreativen Beteiligungsprojekten mit Planbude in Hamburg: „Jede Wunschproduktion beginnt mit einem Nein.“ Es gelte, Bürger*innen zu helfen, ihre Interessen zu formulieren. Dazu bedarf es in der Regel weit mehr als eines Fragebogens. „Wir müssen Orte aus dem Entwicklungsdruck lösen“, sagt Tribble. Maechtel stimmt ihr zu: „Künstlerische Praxis kennt ihr Ziel nicht von Anfang an und kann deshalb keine Erwartungen erfüllen – zu frühe Funktionszuweisungen verhindern Produktivität.“ Künstler*innen verfügten über Strategien, Prozesse in Gang zu halten und sie nicht erstarren zu lassen. Diese Praxis, die wesentlich zu den Vorläufern Urbaner Praxis im Berlin der 1990er Jahre beigetragen habe, habe in dieser Zeit zwar gute Entwicklungsbedingungen gefunden. Sie gehe aber weiter zurück. In den 1980er Jahren habe zum Beispiel Büro Berlin großen Einfluss darauf gehabt – ein Label, unter dem die Künstler Raimund Kummer, Hermann Pitz und Fritz Rahmann Interventionen in öffentliche Räume durchführten.

Differenzierungen und Widerstand

Auch der Kurator und Autor Jochen Becker, der die Werkstattkonferenz für die nGbK mit organisiert hat, sieht eine Entwicklung der Urbanen Praxis von temporären Projekten hin zu langfristigen Prozessen: „Es geht darum, urbane Situationen zu etablieren und langfristig vor Zugriffen schützen.“ Eine komplexe Stadtgesellschaft könne sich heute nicht mehr darauf berufen, wer zuerst da war – daraus leite sich kein selbstverständlicher Gestaltungsanspruch ab. Gerade in der Konfrontation mit einem aggressiven Immobilienmarkt sei eine freundliche Zwischennutzung nicht mehr effektiv, so Becker: „Wir müssen das Recht auf Stadt einfordern und behaupten.“ Bertuzzo bringt dies auf die Formel: „Urbane Praxis besteht auch aus Widerstand.“

Sicherlich: Die Berliner Situation der Urbanen Praxis ist eine lange gewachsene, Akteur*innen können in Diskursen auf Erfahrungswerte aus Jahrzehnten und große, dynamische und respektierte Initiativen wie das Haus der Statistik am Alexanderplatz zurückgreifen. Dennoch wird es nicht schaden, die Berliner Differenzierungen auch beim Innenstadtdialog in Hannover im Hinterkopf zu behalten, wenn dieser gelingen soll: Transdisziplinäre Allianzen, die ganz besondere Ergebnisoffenheit künstlerischer Prozesse und ein gewisser Widerstand gegen Instrumentalisierungen und Institutionalisierungen werden das Entwickeln tragfähiger Visionen für eine lebendige Innenstadt effektiver gestalten.

[Allesandersplatz: Das Haus der Statistik am Alexanderplatz. (Foto: Lena Giovanazzi)]

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