04. Juli 2021 – Kurzbetrachtung: Geschichte wird gemacht. Gegenwart auch.
So. 04.07. | ab 12.00 (bleibt digital verfügbar)
Kunst umgehen: Kurzbetrachtung
von Thomas Kaestle
Die Kurzbetrachtungen sind ein neues Format bei Kunst umgehen: Jeweils ein Mitglied des Vermittlungsteams lässt Sie teilhaben an Ideen, Assoziationen, Neuigkeiten und Meinungen zu Kunst in öffentlichen Räumen. Hier ist öffentlicher Raum für individuelle Perspektiven nicht nur auf einzelne Objekte oder Projekte in Hannover und der Welt, sondern auch auf Bezüge, Potentiale oder Defizite.

Geschichte wird gemacht.
Gegenwart auch.
von Thomas Kaestle
Wenn es um die Wirklichkeit geht, halte ich mich gerne an Heinz von Foerster. Der Physiker, Kybernetiker und Philosoph ist einer der Begründer des Diskurses des Radikalen Konstruktivismus, einer interdisziplinären wissenschaftlichen Bezugstheorie, in der jede Wahrnehmung als individuelle Konstruktion gilt. „Richtig“ oder „falsch“ führen deshalb als Kategorien nicht weiter, es geht darum, dass Dinge passen, „viabel“ sind, also anschlussfähig. In einer Welt ohne allgemeingültige Wahrheiten ist der gesellschaftliche Konsens umso wichtiger: Sorgsam ausgehandelte, stabile Einigungen auf Grundlagen von Wissenschaft, Gemeinschaft, Denken und Handeln.
Gerade in einer Zeit, in der viele Menschen auf die Pandemie und die Einschränkungen, die sie mit sich bringt, mit Egoismus und Skepsis reagieren und in der Verschwörungsmythen Hochkonjunktur haben, wird deutlich, wie wichtig die permanente Verständigung auf eine kollektive Basis ist, wie zerbrechlich die Vereinbarungen von gestern und vorgestern sein können. Von Foersters ethischer Imperativ ist eben kein Freibrief, rücksichtslos den eigenen Wirklichkeitskonstruktionen zu folgen, sondern eine Verpflichtung, immer auch deren Konsequenzen zu bedenken: „Handle stets so, dass die Anzahl der Möglichkeiten wächst.“
Welche Vergangenheit setzt sich durch?
Wenn wir uns also schon kaum auf eine gemeinsame Perspektive auf die Gegenwart einigen können: Bei der Vergangenheit wird es erst richtig kompliziert. Wie zuverlässig sind die Erinnerungen eines menschlichen Gehirns, das dazu neigt, Widersprüche auszulöschen, um eine schlüssige biografische Erzählung zu ermöglichen und so psychische Krankheiten zu vermeiden? Welcher Anteil der Bilder, die wir für eigene halten, stammt eigentlich aus Filmen, Zeitschriften, Fotoalben? Welche Geschichten haben wir selbst erlebt und welche wurden uns nur erzählt?
Wo die persönliche Erinnerung endet, so unzuverlässig sie sein mag, sind wir sogar vollkommen auf fremde Quellen angewiesen. Welche Dokumente und Objekte haben es bis in die Gegenwart geschafft, welche wurden bewahrt, geschützt und gesammelt – und welche gezielt zurückgelassen oder gar vernichtet? Wessen Wirklichkeiten und Wahrheiten haben sich historisch durchgesetzt? Wie zuverlässig sind Archive und Sammlungen, was erzählen sie – und was verschweigen sie? Diese Fragen lassen sich genau so auch an Kunstmuseen stellen – oder an jene Kunst, der wir in den öffentlichen Räumen unserer Städte begegnen. Warum ist etwas heute noch da und prägt einen bestimmten Raum? Was könnte da noch stehen? Und wer hat die entsprechenden Entscheidungen getroffen oder treffen lassen?
Aus der Zeit gefallen
Vor einigen Jahren erschien im Reader Whats Next? Art Education (Hsg. Meyer/Kolb, München 2014) mein Text Kein Museum! (Was sich an urbaner Kunst lernen lässt.) mit einigen Thesen zur Vermittlung von Kunst in öffentlichen Räumen. Darin schreibe ich unter anderem:
„Jede Kunst im Stadtraum ist also untrennbar mit ihrem jeweiligen urbanen Kontext verknüpft. Somit auch mit dessen dynamischem Wandel: Gerade innerstädtische Räume verändern sich stetig und oft mit großer Geschwindigkeit, planerischen und politischen Idealen von Stadt folgend – oder auch nur aus pragmatischen Notwendigkeiten heraus. Die Kunst hat inmitten solcher Prozesse häufig Schwierigkeiten, sich in ihrer Wahrnehmbarkeit und Wirksamkeit zu behaupten, da sie in der Regel Zeit und Ruhe benötigt, um neue Orte zu erschaffen. Die von konservativen Kräften in Politik, Verwaltung und Bürgerschaft auf sie projizierte Rolle eines Ankers in die (meist verklärte) Vergangenheit vermag sie ebenfalls nicht auszufüllen, auch wenn sie oft durch das Urheberrecht an problematisch gewordene Orte (und Zeiten) gebunden ist. Allerdings erzählt gerade solche teilweise gescheiterte, zwangsläufig stehengebliebene, in neue Kontexte gepresste oder aus der Zeit gefallene Kunst im Wortsinn plastisch von vergangenen Ideen und Vorstellungen von Stadt sowie von der Gesellschaft und den gemeinschaftlichen Erzählungen aller Stadtnutzerinnen, die sie geprägt haben. Manche erzählt nur Fußnoten. Andere gleich ganze Kapitel. Auch (kultur-)politische Konzepte und Prozesse lassen sich so als Bestandteil einer umfassenden Geistesgeschichte an den Jahresringen einer Kunst im Stadtraum ablesen. Ebenso wie sich Perspektiven auf Zukunft aus einst und aktuell formulierten Potenzialen, Sehnsüchten und Bedürfnissen entwickeln lassen.“
„Spekulieren Sie dabei ruhig ein wenig.“
Der Text endet mit einem Appell, dessen letzte Sätze fordern: „Lauschen Sie den Geschichten, (er)zählen Sie aktiv und bewusst dazu. Nehmen Sie deren Kontexte wahr und ernst, fragen Sie nach Ideen, Visionen und Projekten aus Stadtentwicklung und Kulturpolitik – den gelungenen wie den gescheiterten. Spekulieren Sie dabei ruhig ein wenig. Es ist schließlich auch Ihre Stadt.“
Vor knapp zwei Wochen streamte der Kunstverein Hannover die Lecture Performance Fabrikantenphantasien. Architektur und Kontrolle des Künstlers Till Wittwer aus dessen Reihe Fabrikanten der Wirklichkeit. Wittwer fragt in jeder Folge neu und anders nach vermeintlichen Realitäten, die ihre jeweilige Zeit geprägt haben – und zum Teil bis heute nachwirken. Es ging ihm zum Beispiel bereits um die sich beständig wandelnden Vorstellungen von Dinosauriern, welche die Paläontologie aufgrund aktueller Funde seit fast 200 Jahren erzeugt: Von trägen, schuppigen Echsen über agile, muskelbepackte Killer bis hin zu bunt gefiederten Herdentieren. Und darum, wie sich veraltete Bilder und Ideen in Köpfen und Museen festsetzen. Das riesige Gipsmodell eines Iguanodon, das noch bis 2013 im Landesmuseum Hannover ausgestellt war, stammte aus den Sechzigerjahren und war wissenschaftlich längst veraltet, als es endlich abgebaut wurde. Da hatten die Hannoveraner*innen ihren „Balduin“ längst ins Herz geschlossen – der Ursprung des Kosenamens lässt sich allerdings nicht mehr rekonstruieren.
Stricken mit dem roten Faden
In Fabrikantenphantasien. Architektur und Kontrolle erzählt Wittwer die Geschichte des hannoverschen Keksfabrikanten Hermann Bahlsen, der den Begriff „Keks“ erfand, innovative Verpackungen aus den USA importierte, die erst zweite Leuchtreklame Europas am Potsdamer Platz installieren ließ, noch vor Henry Ford auf Fließbänder setzte, sich von Kurt Schwitters „Keks ist Fortschritt“ auf Plakate drucken ließ – und den Bildhauer Bernhard Hötger beauftragte, ihm eine neue, größere Fabrik zu entwerfen. Hötger schoss über das Ziel hinaus und so präsentierte er mit Bahlsen zusammen im Jahr 1917 in den Räumen des Kunstvereins Hannover das Modell einer TET-Stadt für bis zu 2.000 Arbeiter*innen, mehr Skulptur als Architektur, mehr Filmkulisse als bewohnbare Utopie.
Stimmt es, dass es dabei um totale Kontrolle und die Fortsetzung des Feudalismus mit anderen Mitteln ging? Dass die Ägyptomanen Bahlsen und Hötger eine mystisch-magisch-absolutistische Vision verfolgten? Dass es sich bei einer riesigen Säule im Zentrum des Entwurfs eigentlich um eine größenwahnsinnige Grabstätte handelte, die den Herrn der Kekse auf ewig unsterblich machen sollte? „Ich hatte Hermann Bahlsen eingeladen, er ist aber nicht gekommen – also kann er sich gegen meine wilden Spekulationen auch nicht wehren“, sagt Wittwer, der geschickt immer mehr Recherchematerial miteinander verknüpft und es so mit neuer Bedeutung auflädt. Er erzählt dazu. Er spekuliert. Und doch gerät er dabei als Künstler vielleicht näher an seine Themen als er es als Historiker könnte.
Herstellen von Geschichte, Gegenwart und Zukunft
Denn Wittwer konstruiert seine Zusammenhänge nicht nach den Kriterien „richtig“ oder „falsch“. Er lässt sie vielmehr passen und so zu schillernden Thesen und Behauptungen werden – zu einer Wirklichkeit, die mit Erkenntnisebenen lockt, mit Überraschungen, doppelten Böden und Geheimnissen. Wittwer macht seine Kunst zur Wirklichkeit und seine Wirklichkeit zur Kunst. Er löst am Ende nichts auf, aber er trägt schließlich aus einer Instituion heraus vor, über deren Schwelle der unsichtbare Hinweis auf alternative Perspektiven prangt. Und er fügt das Präsentierte in einen übergeordneten Kontext ein, in die Metaerzählung einer Reihe, die sich vor allem mit gemachten Wahrheiten befasst, mit dem Herstellen von Geschichte, Gegenwart und Zukunft. In seiner Lecture Performance demonstriert Wittwer aktiv einen solchen Herstellungsprozess – mit einer so charmanten Konsequenz, dass es attraktiver erscheint, ihm zu glauben, als all die Versatzstücke mühsam nachzurecherchieren.
Impulse
Dieser Beitrag muss offen enden, sonst würde er sein Format endgültig sprengen. Also füge ich den vorgestellten Gedanken zum Umgang mit der Vergangenheit noch eine Reihe weiterer hinzu. Vor etwa einem Monat hatte ich das große Vergnügen, eine Gesprächsreihe zum Thema „Archiv“ für die Akademie #1 des Impulse Theater Festival 2021 in Düsseldorf zu moderieren, die unter dem Motto Geschichte wird gemacht stand. Anlässlich des eigenen Jubiläums stellte das Festival Fragen nach Möglichkeiten und Grenzen des Erinnerns und Bewahrens – und hatte zu verschiedenen Schwerpunkten interdisziplinäre Gäste aus Kultur und Wissenschaft eingeladen. Einige ihrer Thesen zu Archiven, Sammlungen und Museen finden sich in der folgenden Liste – es handelt sich in der Regel nicht um wörtliche Zitate. Wie bereits erwähnt, ist hier nicht der Raum, sie alle zum Beispiel auf einen potentiellen Umgang mit Kunst im Stadtraum zu übertragen. Möglicherweise findet er sich aber in Ihren Gedanken beim oder nach dem Lesen…
Luisa Ziaja (Kunsthistorikerin, Kuratorin und Dozentin, Galerie Belvedere Wien und Universität für Angewandte Kunst Wien): Es gilt, das Unbewusste des Museums sichtbar zu machen und die Deutungshoheit zu verteilen – die Sammlung gehört allen.
Milo Rau (Soziologe, Journalist, Autor, Dozent, Film- und Theatermacher, International Institute of Political Murder und Niederländisches Theater Gent): Archiv ist ein Irrtum: Wenn wir glauben, dass wir mit der Vergangenheit fertig sind, ist sie noch lange nicht fertig mit uns.
Sandra Vacca (Museologin und Historikerin, Dokumentationszentrum und Museum über die Migration in Deutschland): Die Archive müssen für Partizipation geöffnet werden, dürfen nicht allwissend sein wollen.
Çağla Ilk (Architektin, Dramaturgin und Kuratorin, Staatliche Kunsthalle Baden-Baden): Wir definieren selbst, was wir als Archiv begreifen – was uns nützlich erscheint, um Zukunft herzustellen.
Katharina Warda (Soziologin, forscht zu Klassismus und Ost-Biografien): Archive sollen fluide sein und selbstreflexiv, sie sollen Wissen aktiv herstellen und Widersprüche aushalten können.
Prof. Dr. Hans Markowitsch (Biopsychologe und Neurowissenschaftler, Emeritus der Universität Bielefeld): Das Gehirn ist als lebenslanges Archiv im ständigen Fluss. Im Vordergrund steht jeweils, was aktuell durch die Umgebung getriggert wird.
Dr. Christina Irrgang (Kunst- und Medienwissenschaftlerin und Künstlerin): Archive sollten vor allem durch Zugänglichkeit, Nutzbarkeit und Praxis geprägt sein.
Dr. Sophie-Charlotte Opitz (Medienwissenschaftlerin und Kuratorin, Walther Collection): Öffentliches Erinnern ist immer ein Privileg.
Dr. Manuel Menke (Medienwissenschaftler, Universität Kopenhagen): Ressourcen sind ein wichtiger Faktor für Archive. Die Sozialen Medien erlauben mehr Erinnerung von unten.
Paolo Bianchi (Kurator, Publizist und Kreativitätsforscher, Züricher Hochschule der Künste): Archive sind Gegenentwürfe zu Bibliotheken, sind Wunderkammern und Gärten, in denen es um Unordnung und Unterschiedlichkeit gehen sollte.
Dr. Wolfgang Stöcker (Historiker und Künstler, Internationales Staubarchiv): Wir müssen die Haptik bewahren, die liebevolle Zuwendung zur Materie, das Interesse an Formen von Gegenständen und Gesellschaften.
Lucie Strecker (Performancekünstlerin und -forscherin, Universität für Angewandte Kunst Wien): Archiv kann eine Apotheke sein, Erinnerungen ein Pharmakon.
Otmar Wagner (Performancekünstler und Utopieforscher): Wir bräuchten freie Archivare, die durch die Welt streifen und als Feldforscher auf Dinge stoßen können.
Prof. Dr. Nina Tecklenburg (Performancemacherin und Theaterwissenschaftlerin, u. a. Interrobang und Bard College Berlin): Archivieren ist ein narrativer, situativer Prozess, in dem nicht nur über Objekte, sondern auch mit den Objekten kommuniziert werden sollte.
David Weigend (Zukunftsforscher, Designdenker, Volkswirtschaftler und Vermittler, Futurium Berlin): Das Archiv muss erlebbar sein, muss zum Entdecken, Stöbern und Verweilen einladen.
Prof. Dr. Gerd-Christian Weniger (Ur- und Frühgeschichtler, Ethnologe und Biologe, bis 2018 Neanderthal Museum und Universität Köln): Das Archiv ist unveränderbar, der Zugriff darauf muss aber mit der jeweiligen gesellschaftlichen Realität korrespondieren.
Weiterdenken
Sie haben noch immer nicht genug? Dann finden Sie die fünf Archiv-Gespräche der Akademie #1 (Geschichte wird gemacht) des Impulse Theater Festival genau hier: