18. Juli 2021 – Kurzbetrachtung: Kunst im öffentlichen Raum – quo vadis?
So. 18.07. | ab 12.00 (bleibt digital verfügbar)
Kunst umgehen: Kurzbetrachtung
von Christiane Oppermann
Die Kurzbetrachtungen sind ein neues Format bei Kunst umgehen: Jeweils ein Mitglied des Vermittlungsteams lässt Sie teilhaben an Ideen, Assoziationen, Neuigkeiten und Meinungen zu Kunst in öffentlichen Räumen. Hier ist öffentlicher Raum für individuelle Perspektiven nicht nur auf einzelne Objekte oder Projekte in Hannover und der Welt, sondern auch auf Bezüge, Potentiale oder Defizite.

Kunst im öffentlichen Raum – quo vadis?
von Christiane Oppermann
Angesichts sintflutartiger Unwetter, überschwemmter Dörfer und aus dem Leben gerissener Menschen hier in Deutschland und längst schon überall auf der Welt fällt es schwer, über Kunst zu reflektieren. Und doch oder gerade, die Frage sei erlaubt: Was brauchen und wünschen sich die Menschen von der Kunst, was brauchen, wünschen und imaginieren die Künstler*innen real und im übertragenen Sinn, wenn sich alle gemeinsam auf rauer See befinden?
Landmarken.
Ursprünglich bezeichnet der Begriff ein aufgestelltes Küstenseezeichen wie zum Beispiel einen Leuchtturm oder ein anderes auffälliges, meist weithin sichtbares, topografisches Objekt, das bei der Orientierung auf See und an Land eine wichtige Rolle spielt. Elfenbeintürme können der Kunst Landmarke sein und Orientierung geben – oder werden sie auch unterspült? Aber wieviel Kunst im öffentlichen Raum wird schon im Elfenbeinturm geboren oder passt dort hinein? Da passt es, dass man/frau eh seit längerer Zeit kaum noch von diesen Türmen spricht.
Leuchttürme.
Weitaus öfter jedoch wird von Leuchttürmen gesprochen. In der Kunst sind damit innovative Programme, Lebenswerke, Projekte bis hin zu einzelnen Kunstwerken gemeint, die das Potential haben, etwas für und in die Zukunft Richtungsweisendes zu bewegen. Wie und wohin müsste, sollte, könnte sich die Kunst im öffentlichen, dem realen und digitalen Raum bewegen?
Die Hintergründe und Qualitäten aufgrund derer Werke und Projekte zu Leuchttürmen der Kunst avancieren, sind kaum ersichtlich und/oder werden selten transparent kommuniziert. Eines scheint jedoch sicher: Die Zukunft der Kunst, auch der im öffentlichen Raum, liegt in den Händen, Köpfen und Herzen junger Menschen, die angesichts der ihnen von früheren Generationen ‚eingebrockten‘ Welt- und Klimalage Schwierigkeiten haben, sich rein formal-ästhetischem Schaffen im Atelier hinzugeben.
Kollektive.
Zunehmend schließen sich junge Künstler*innen zusammen und reflektieren mit oder parallel zu den schon immer von diesen Themen Angesprochenen in ihren Projekten auf soziale, politische, ökologische, ökonomische, (…) Missstände und Notlagen und entwickeln Strategien, die darauf zielen, die verantwortlichen Systeme (Menschen, Hierarchien, …) zu erforschen, sichtbar zu machen und – zumindest exemplarisch – aufzubrechen oder auszuhebeln.
Aufbruch.
Wenn ich an aktuell tätige Künstlerkollektive und deren Strategien denke oder das Gespräch von Thomas Kaestle mit Hilke Marit Berger zum Thema Kunst als gemeinsame Stadtgestaltung vom 5. Juli oder höre, mit welcher Intensität politisch und gesellschaftlich relevante Themen in Kunsthochschulen behandelt werden, oder Veranstaltungen wie den Innenstadtdialog in Hannover in den Blick nehme, der stark auf Beteiligung der Bürger*innen an der Gestaltung ihrer Stadt zielt, fühlt es sich so an, als hätten die interdisziplinär interessierten und in verschiedenen Feldern vernetzt tätigen (Aktivist*innen/)Künstler*innen das ‚Zukunftsrudern‘ schon übernommen. Was die ästhetische Produktion angeht, mag der eine oder die andere skeptisch sein. Ich bin im positivsten Sinne gespannt, welche Strategien, Formen und Begrifflichkeiten sich im Bereich der Kunst im öffentlichen Raum neu entwickeln werden, einer Kunst, die per Definition nicht in den Kunsthäusern und auf den Kunstmärkten zuhause ist, auch wenn zugegebenerweise die meisten der aktuell im öffentlichen Raum tätigen Künstler*innen mit eineinhalb Beinen (noch) in diesem anderen System spielen.
Umbruch.
Mit der kurz vor’m Kipppunkt befindlichen Welt- und Klimalage ist vielleicht auch das Kunstsystem in eine Umbruchsituation geraten – wie könnte es auch ausgenommen sein?! Das schafft Irritation, die jedoch nötig ist, um Systemwandel hervorzubringen. Die Pandemie hat weltweit Notlagen, Ungerechtigkeiten und Missstände deutlicher hervortreten lassen, aber auch gesellschaftliche Prozesse beschleunigt, die durchaus positiv zu bewerten sind und zuvor als schwer durchsetzbar galten, wie zum Beispiel das Arbeiten im Homeoffice, das vielleicht zukünftig teuer anzumietende Büroflächen in der City überflüssig macht und zudem Sprit spart, also Ressourcen schont. Nicht zuletzt aufgrund höherer Akzeptanz von Online-Meetings zieht es junge Menschen zunehmend wieder aufs Land, wo sie gemeinschaftlich in Co-Working-Spaces arbeiten.
Neue Horizonte.
Mit diesen und anderen Entwicklungen wird sich auch das Zusammenleben und das Verständnis von Zusammenleben in der Stadt ändern. Auch hier ist schon einiges in Bewegung geraten. Leere Kaufhäuser können zu selbst- bzw. mitgestalteten Kultur-, Freizeit-, Spiel- und Begegnungsorten werden. Künstler*innen und Künstler*innenkollektive, die am Thema des öffentlichen/urbanen Raums arbeiten, können bei der Planung und Umsetzung eine bedeutende Rolle spielen, sei es, indem sie den Orten durch Kunst Identität geben, oder indem sie kommunikative Prozesse mit künstlerischen Mitteln initiieren oder auf Augenhöhe mit Architekt*innen, Stadtplaner*innen und Einwohner*innen entsprechender Quartiere zusammenarbeiten und dabei ihre spezielle Expertise einbringen.
Ausblick: ruangrupa. lumbung. documenta.
In diesem Sinne freue ich mich auch auf die 15. documenta, die 2022 unter der Leitung des 10-köpfigen Künstler*innenkollektivs ruangrupa stattfinden wird. Woran man sieht, dass Künstler*innenkollektive derzeit schwer unter ‚Leuchtturm-Verdacht‘ stehen! Und Google hält mittlerweile unter dem Suchbegriff „Künstlerkollektiv“ 220.000 Einträge bereit. Das waren vor fünf Jahren noch deutlich weniger.
Das Kollektiv ruangrupa hat sich bereits 2000 in Jakarta als gemeinnützige Organisation gegründet, „die danach strebt, die Idee von Kunst im städtischen und kulturellen Kontext zu unterstützen, indem sie Künstler und andere Fachgebiete wie beispielsweise Sozialwissenschaften, Politik, Technik, Medien etc. einbezieht, um eine kritische Beobachtung und Einschätzung zu urbanen Themen zu erhalten. ruangrupa produziert gemeinsame Arbeiten in Form von Kunstprojekten wie Ausstellungen, Festivals, Kunstlaboren, Workshops, Forschung und Publikationen (Bücher, Zeitschriften, Online-Journale).“ (Quelle: Welten der Kunst. Universes in Universe.)
2018 co-initiierte das Kollektiv ruangrupa mit weiteren Partner*innen das Projekt GUDSKUL: zeitgenössische Kunstkollektiv- und Ökosystemstudien (kurz auch Gudskul, gesprochen wie „good school“ im Englischen). Es ist ein öffentlicher Lernraum, der ein erweitertes Verständnis kollektiver Werte wie Gleichheit, Teilen, Solidarität, Freundschaft und Zusammengehörigkeit vermittelt. In diesem Sinne ist auch das Motto der 15. documenta zu verstehen:
lumbung ist ein Allmende-Begriff aus Indonesien und steht für Gemeinschaftlichkeit, Teilen, Großzügigkeit und Nachhaltigkeit. Speziell in puncto Nachhaltigkeit wolle das Kollektiv neue Maßstäbe setzen, betont Sabine Schormann, die ehemalige Direktorin der Niedersächsischen Sparkassenstiftung und VGH-Stiftung und jetzige Generaldirektorin der documenta.
Die aufgeführten Werte, die auf der documenta verhandelt werden, mögen sich ein wenig ‚christlich-rot‘ anhören, aber Vorurteile und Voreinstellungen beiseite, fühle ich mich als Mensch und Künstlerin gleichermaßen angesprochen und freue mich aufs nächste Jahr, in dem ich sicher von eben diesem Ereignis berichten werde.