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01. August 2021 – Kurzbetrachtung: „Standort_Bestimmung“. Interventionen und Installationen im öffentlichen Raum eines Dorfes

So. 01.08. | ab 12.00 (bleibt digital verfügbar)
Kunst umgehen: Kurzbetrachtung
von Anna Grunemann

Die Kurzbetrachtungen sind ein neues Format bei Kunst umgehen: Jeweils ein Mitglied des Vermittlungsteams lässt Sie teilhaben an Ideen, Assoziationen, Neuigkeiten und Meinungen zu Kunst in öffentlichen Räumen. Hier ist öffentlicher Raum für individuelle Perspektiven nicht nur auf einzelne Objekte oder Projekte in Hannover und der Welt, sondern auch auf Bezüge, Potentiale oder Defizite.

Standort_Bestimmung

Interventionen und Installationen im öffentlichen Raum eines Dorfes

von Anna Grunemann

Diese Ausstellung wird gerade heute, am 1. August 2021, in Jamlitz, einem kleinen Dorf nahe der polnischen Grenze, Höhe Berlin eröffnet.

Während Kunst im öffentlichen Raum in den größeren Städten zum Alltagsbild gehört, ist der ländliche Raum oft unberührt von zeitgenössischen künstlerischen Kommentaren. Es gibt durchaus eine Reihe von Initiativen, die Residenzen auf dem Land ausloben und dann auch Berührungen mit den eingeladenen Künstler*innen inszenieren. Aber dass die Kunst unmittelbar zum Menschen kommt, wie das bei Kunst im öffentlichen Raum überwiegend passiert, ist in ländlichen Regionen noch nicht häufig genug der Fall. Erst recht in einem Duktus, der weniger dem Dekorativen als dem Inhaltlichen geschuldet ist.

Leben im ländlichen Raum im Allgemeinen und Besonderen

Da sind die unterschiedlichen Anwohner*innen, die wohl die ganze Bandbreite kultureller Interessen abbilden, die vielleicht möglich sind. Im ländlichen Raum ist das kulturelle und erst Recht das künstlerische Interesse mitunter nicht so stark entwickelt, da die Berührung mit Kunst seltener ist oder vielleicht ganz fehlt. Je öfter wir mit Dingen und Sichtweisen konfrontiert sind, umso vielschichtiger erscheinen sie uns und so lösen sich Vorurteile nach und nach vielleicht auf. Das wäre ein Argument, mehr Kunst im öffentlichen ländlichen Raum zu realisieren.

Nicht von der Hand zu weisen ist aber auch, dass das Leben auf dem Land mitunter ganz andere Dinge in den Fokus nimmt und somit auch die Menschen auf dem Land vor allem mit sehr praktischen Dingen beschäftigt sind, mit denen Künstler zuweilen weniger beschäftigt sind. So löst eine komplex gedachte künstlerische Arbeit mit intelektuellem oder gar philosophischem Hintergrund mitunter lediglich eine müde Abwehrgeste aus.

In Jamlitz, wo nun für einen Monat die Ausstellung Standort_Bestimmung das Ortsbild verändert, gibt es gleich eine Reihe von Arbeiten, die mitnichten derartige Reaktionen auslösen.

Der Geisterkompost von Helmut Dick (Amsterdam)

Helmut Dick hat seinen Geisterkompost an der Hauptstraße installiert und die Jamlitzer*innen eingeladen, in diesem ihre Küchenabfälle zu versenken und nach einem Reifungs- und Setzprozess entsprechend angereichert wieder in ihren Garten auszubringen.

Vier Behälter sind verschiedenen Philosoph*innen und Denker*innen gewidmet.

Der Aristoteleskompost hilft, Auseinandersetzungsprozesse deutlich zu machen, verspricht der Künstler. Der VonBingenkompost verstärkt die Mensch-Pflanzenbeziehung. Der Darwinkompost fördert das individuelle Durchsetzungsvermögen und der VonLinnékompost unterstützt Gemeinschaftssinn und Strukturbildung. Und wenn man jetzt davon absieht, dass da Philosophen und eine Mystikerin im Spiel sind, dann ist das doch eine im wahrsten Sinne praktische und bodenständige Kunst, die den Jamlitzer*innen da vorgesetzt wird. Und so haben schon eine Reihe von ihnen ihre Küchenabfälle gebracht und dem Künstler dabei zugesehen, wie er fachsimpelnd die Würmer ins gemachte Denkernest, bestehend aus geschredderten Seiten ausgewählter Schriften, streute.

Reden über Jamlitz vom Michael Kurzwelly (Frankfurt/O., Slubfurt)

Diese Arbeit bezieht die Leute vor Ort ebenfalls ein. Der Künstler lud die Jamlitzer*innen schon vor Ausstellungseröffnung auf den inoffiziellen Dorfplatz ein, anhand einer großen Karte vom Ort über das Schöne und die Schwachstellen ihres Ortes und ihre Situation zu diskutieren und ihre Gedanken in die Tafel einzutragen. Da kamen ganz praktische Probleme zutage, wie die fehlende Lampe an der Bushaltestelle oder die verlandete Badestelle. Es war eine rege Diskussion und der Künstler, der all das initiiert hatte, geriet fast in Vergessenheit. Am Ende war die Tafel vielfach beschriftet und eine Anwesende stellte fest: „Da steht ja schon alles drauf.“ Plötzlich wird deutlich, dass die individuellen Bedürfnisse vielmehr auch Bedürfnisse der anderen sind – und aus dem Ich kann ein Wir wachsen. Ein Teilnehmer verabschiedete sich mit den Worten: „Wenn nur eine dieser Sachen umgesetzt würde, dann wäre schon viel gewonnen!“

Wasserstand von Gaby Taplick (Berlin)

Diese atemberaubende Installation auf einer Fläche von 1800 qm dockt ebenfalls an ganz praktische Felder an. Während der Mühlenteich bis vor zehn Jahren noch zum Baden und Kahnfahren genutzt wurde, liegt er heute trocken da. Die Ursachen sind strittig, nur das Resultat nicht. Solche aus ihrer ehemaligen Nutzung gefallenen Areale geraten schnell aus dem Blickfeld – und mitunter auch die Gründe, die zu der bedauernswerten Veränderung geführt haben.

Die Grünen haben in dieser Region einen schweren Stand: Zu viel Reglementierung, ärgern sich die einen, zu viel Fokus auf die Nischenwesen der Natur, belächeln die anderen. Vielleicht braucht die Natur menschliche Hilfe auch nicht, aber dass sie sich verändert, wird durch die zarte und doch kraftvolle Intervention der Künstlerin überdeutlich. Nun können die Besucher*innen im Seebett spazieren gehen und gleichzeitig über den Verlust des Wassers trauern.

Und nicht nur, dass derartige Dimensionen im ländlichen Raum oft erst möglich sind – es ist auch gerade die Begegnung mit den Menschen im Besonderen, die diese Projekte so wichtig und lohnenswert macht. Die Genehmigungen für die Realisierung dieser Arbeit wurden im Eiltempo und trotzdem gewissenhaft erteilt. Ein Jamlitzer mähte das mannshohe Brennnesselfeld in meditativem Bahnenzug über viele Stunden und trug nicht nur seinen Teil zum Gelingen dieser Ausstellung bei, sondern begann sich darüber Gedanken zu machen, was wäre, wenn die Fäden nicht blau sondern unter UV-Licht anregbar wären und der „Wasserstand“ von selbst leuchtete.

Diesen Effekt hat die künstlerische Intervention von Gaby Taplik nicht nötig. Aber dass Kunst auch für Menschen, die sich eigentlich nicht für Kunst interessieren, einen Effekt haben kann, ist in Jamlitz ganz praktisch erfahrbar.

Die Ausstellung mit Arbeiten von acht Künstler*innen läuft bis zum 29. August 2021 und wird durch eine Reihe von Begleitveranstaltungen abgerundet.

Nähere Infos finden Sie hier.

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