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08. August 2021 – Kurzbetrachtung: Kanten

So. 01.08. | ab 12.00 (bleibt digital verfügbar)
Kunst umgehen: Kurzbetrachtung
von Thomas Kaestle

Die Kurzbetrachtungen sind ein neues Format bei Kunst umgehen: Jeweils ein Mitglied des Vermittlungsteams lässt Sie teilhaben an Ideen, Assoziationen, Neuigkeiten und Meinungen zu Kunst in öffentlichen Räumen. Hier ist öffentlicher Raum für individuelle Perspektiven nicht nur auf einzelne Objekte oder Projekte in Hannover und der Welt, sondern auch auf Bezüge, Potentiale oder Defizite.

Kanten

von Thomas Kaestle

Unsere Städte werden zunehmend hörbar. Das lässt sich auf immer dringendere Diskurse über die Rettung von Innenstädten beziehen (siehe hier), auf den wachsenden Lärmpegel des Urbanen oder auf die eine oder andere Initiative für mehr Klangkunst in öffentlichen Räumen (siehe hier). Ich beziehe mich heute zunächst auf die Konjunktur der meist Audio Walks genannten Hörspaziergänge, die schon Jahre vor der Corona-Pandemie ordentlich Anlauf nahm.

Auch bei der Vermittlung von Kunst im Stadtraum: Vor zehn Jahren, noch bevor sich Podcasts in Deutschland etabliert hatten, schuf der Hamburger Künstler, Autor und Performer Armin Chodzinski für die Hamburger Behörde für Kultur und Medien zwei jeweils 90-minütige Audioguides, in denen nicht nur Künstler*innen zu Wort kamen, sondern auch fiktive Charaktere über die vor Ort erlebte Kunst stritten (als ZIP-Dateien hier zum Download). Ein paar Jahre später konzipierte ich zusammen mit Stefanie Krebs, die sich in Hannover mit Tonspur Stadtlandschaft auf das Genre spezialisiert hat, den Hörspaziergang Die Kunst, den Raum zu fassen. Ein mobiles Stadtgespräch mit 8 x 2 Stimmen als lokales Vermittlungsprojekt zu Kunst und Stadtraum.

Kunst und Gehen

In den vergangenen eineinhalb Jahren hat sich einiges zugespitzt. Die Krise der Innenstädte beschleunigte sich durch Einschränkungen beim Konsum vor Ort, sei es in der Gastronomie oder beim Einzelhandel. Die Entwicklung von Aufenthalts- zu Durchgangsräumen verschärfte sich auch durch das Unbehagen, in urbanen Räumen der Nähe anderer Menschen noch weniger als sonst vertrauen zu können. Auch Kunst umgehen verlegte sein Vermittlungsprogramm aus Sicherheitsgründen weitgehend ins Digitale. Sonst gäbe es die Website, auf der Sie gerade einen Beitrag lesen, gar nicht – und auch den Beitrag nicht.

Als Reaktionen auf Dinge, die plötzlich nicht mehr oder nicht mehr so einfach möglich waren, entwickelten sich rasch neue Formate. Oder bereits vorhandene entwickelten sich weiter. Unter anderem rückte die Praxis des Spaziergangs wieder stärker ins Bewusstsein. Mit ihr erhielt die Kunst des Hörspaziergangs weiteren Auftrieb. Eine Nähe zwischen Kunst und dem Gehen in der Stadt besteht spätestens, seit der französische Autor, Künstler und revolutionäre Denker Guy Debord das Konzept des Dérive zunächst in der Lettristischen Internationalen, ab 1957 dann in der Situationistischen Internationalen mit entwickelte und bekannt machte. Dérive beschreibt das ziellose Umherschweifen meist in einer Stadt, ein bewusstes Verirren, um individuell mehr und andere Dinge wahrzunehmen.

Überlagerungen und Hinzufügungen

Die Situationisten dachten sich immer wieder Hilfsmittel aus, um ihre gezielte Ziellosigkeit zu forcieren. Sie bewegten sich zum Beispiel anhand eines Stadtplans der Stadt London durch Paris oder sogar durch den Harz. Strukturen wurden so zunächst beliebig, erlaubten jedoch die Konstruktion neuer Zusammenhänge. Lesbarkeitsebenen von Stadt überlagerten sich und ließen eigene, neue Blicke zu. Es sind solche Überlagerungen und erzählerische Hinzufügungen, die bis heute urbanes Gehen zur Kunst machen können.

Meine erste eindrückliche Begegnung mit dem immensen Potential eines dazu- und darübererzählenden Audio Walks fand im Jahr 1997 im Rahmen von Skulptur.Projekte Münster statt: Die kanadische Künstlerin Janet Cardiff ließ in ihrer Arbeit Walk Münster tatsächlich Gehörtes und Gesehenes auf eine subtile Fiktion prallen – und schuf so eine temporäre, mysteriöse Wahrnehmungsebene, die Menschen mit Kopfhörern vorbehalten blieb.

Erweiterung des Begriffs der Intervention

Längst gilt der Begriff der Intervention in der Bildenden Kunst nicht mehr nur in seiner ursprünglichen Definition eines selbstbeauftragten, unangemeldeten, nicht genehmigten, subversiven Eingriffs in bestehende Zusammenhänge eines öffentlichen Raums. Die kritische Frage, ob eine kuratierte Intervention als Diskursbeitrag, forcierter Perspektivwechsel oder Kommentar die gleiche Kraft zu entfalten vermag wie eine eigeninitiative, steht jedoch nach wie vor zur Debatte.

In Wuppertal fragte im Jahr 2006 das Projekt Outsides nach dem Potential einer solchen Kunst, indem es etwa 20 internationale Akteur*innen aus der Szene der Urban Art ohne konkreten Auftrag in die Stadt einlud – in der (schließlich erfüllten) Erwartung, es würde zu zahlreichen Interventionen kommen. Für den vom Unternehmen Red Bull finanzierten und durchaus kritisch rezipierten Balanceakt wurde der Begriff Corporate Streetart Attack geprägt. Letztlich geht es in einer erweiterten zeitgenössischen Definition von Intervention um öffentliche Sichtbarmachungen, Provokationen, Betriebsstörungen oder überraschende Neukontextualisierungen – oft unabhängig von deren Zustandekommen.

Gut gemeint versus gut gemacht I

Die wohl öffentlichste und meistdiskutierte Intervention in den Stadtraum Hannovers der vergangenen Monate hätte offizieller, genehmigter und institutioneller nicht sein können: Das internationale Festival Theaterformen, das abwechselnd in den Städten Hannover und Braunschweig stattfindet, ließ im Juli für etwa drei Wochen die Raschplatzhochstraße sperren, eine gut 50 Jahre alte Überführung, als Teil des Cityrings Konsequenz aus der Nachkriegskonzeption Hannovers als „autogerechter Stadt“ (die Stadtbaurat Rudolf Hillebrecht als nationalsozialistische Idee aus Albert Speers Wiederaufbaustab übernommen hatte, dem er angehörte). Auf der Hochstraße wurde während des Festivals für knapp zwei Wochen ein Stadtlabor mit dem Titel We Are In This Together But We Are Not The Same präsentiert – mit knapp 250.000 Euro gefördert durch die Kulturstiftung des Bundes.

Die Idee eines Festivalzentrums auf der Raschplatzhochstraße entstand im Rahmen der Bewerbung Hannovers zur Europäischen Kulturhauptstadt 2025. Das Festival Theaterformen griff sie auf, verzichtete aber auf einige grundlegende Faktoren des Originalkonzeptes. Wo es während des Kulturhauptstadtjahres nicht nur um das Thema Klimagerechtigkeit und Mobilitätswandel, sondern auch um eine radikale Öffnung und ein demokratisches Einbeziehen sozial marginalisierter Gruppen wie der Wohnungslosen auf dem unmittelbar benachbarten Raschplatz gegangen wäre, errichtete das Festival zusätzliche Zugangsschranken. Es privatisierte einen Teil des dem Autoverkehr abgerungenen öffentlichen Raums – in der öffentlichen Wahrnehmung ging es also nicht um ein Besetzen, sondern um ein (temporäres) Besitzen.

Intervention für Eliten

Auch wenn der Verkauf von Online-Tickets für das Stadtlabor über einen großen, kommerziellen Anbieter angeblich pandemiebedingten Hygienebestimmungen geschuldet war, auch wenn es dabei nur um wenige Euro ging: Die Intervention durch das Festival Theaterformen machte so mit öffentlichen Mitteln aus einem öffentlichen Raum den exklusivsten Club der Stadt, zugänglich nur für Angehörige bestimmter Szenen und Eliten, privilegiert durch Bildung, die Kenntnis bestimmter sozialer Codes, die Fähigkeit, Hochkultur zu kontextulaisieren, Zugang zu Hardware und Medienerzeugnissen und vieles mehr. Allen anderen blieb nur die Möglichkeit, verständnislos zu „denen da oben“ aufzublicken – und sich über ihre Ausgrenzung zu ärgern.

Die eigentliche Absicht der Intervention, alternative Formen der Stadtnutzung nach einer Mobilitätswende aufzuzeigen, verpuffte für eine entscheidende Mehrheit der Stadtbevölkerung. Die bereits seit 1993 unter der Raschplatzhochstraße befindliche Intervention Hangover des Künstlers Andreas von Weizsäcker wurde übrigens in das architektonische Konzept des Stadtlabors nicht einbezogen. Unbeabsichtigt wurde der alte Eingriff jedoch wohl durch den neuen in seiner Wahrnehmbarkeit aufgeladen. Während ich beide fotografierte, sagte eine junge Frau neben mir zu einer Freundin: „Schau mal, die haben da jetzt so Autos unter die Straße gehängt.“

Gut gemeint versus gut gemacht II

Ein weiteres, viel kleineres, aktuelles Beispiel aus Hannover demonstriert, wie das Potential einer Intervention rasch verpuffen kann, wenn Akteur*innen es versäumen, Kontexte sorgfältig zu reflektieren – oder ihnen diese ganz einfach gleichgültig sind. Die verantwortlichen Lehrer*innen hinter dem Adolf.Art.Project des am Maschsee gelegenen Gymnasiums Tellkampfschule haben es offenbar nicht nur beim Projektnamen versäumt, ihren Schüler*innen zu vermitteln, dass gute Kunst Umsicht und Subtilität braucht. Zu zwei während des Nationalsozialismus am Maschseeufer platzierten Arbeiten wurden Mitte Juli Interventionen erarbeitet: Die Löwenbastion mit den Bronzelöwen Arno Brekers wurde mithilfe Bauzäunen und Schlauchbooten als EU-Außengrenze deklariert, das Menschenpaar von Georg Kolbe wurde temporär eingekleidet – entgegen den Geschlechterrollen. Es gehe dabei um „Schönheitsideale“, verrät ein Begleitflyer der Schule.

Einmal abgesehen davon, dass eine simple Umkehr Geschlechterklischees eher zementiert: Die von den Nationalsozialisten bei der Aufstellung beabsichtigte Visualisierung einer „Rassenideologie“ mit „Schönheitsidealen“ gleichzusetzen, ist mindestens zynisch. Natürlich ist das eine Intervention von Schüler*innen – aber Lehrer*innen sind verpflichtet, ihre Schutzbefohlenen vor solchen Fehlgriffen zu bewahren. Zumal ja der – in Hannover hinlänglich bekannte – Hintergrund, dass es sich bei den Modellen um ein jüdisches Geschwisterpaar handelte, bereits mehr Doppelbödigkeit beinhaltet, als das Projekt jemals hätte herstellen können.

Noch nie gehört?!

„Es ist erschreckend, dass die Vergangenheit der Skulpturen nicht thematisiert wird“, wird eine Schülerin in einem Zeitungsbericht zitiert. Das scheint das eigentliche Problem des Adolf.Art.Project zu verdeutlichen. Selbstverständlich wird die Maschsee-Kunst im Rahmen der Erinnerungskultur von der Landeshauptstadt Hannover kontextualisiert, nicht nur in umfangreichen Broschüren und auf Informationstafeln. Zudem sind die Objekte immer wieder Thema in der Lokalpresse, ob es nun um die Restaurierung des Fackelträgers geht oder um die Urheberrechtsverletzung durch die Aufbauten des Maschseefests beim Menschenpaar. Haben die Lehrkräfte der Schule ihren Schüler*innen etwa den Eindruck vermittelt, es wüsste niemand über die Geschichte der Maschsee-Kunst Bescheid? Das wäre fahrlässig und würde jede daraus folgende Intervention ohne belastbare gesellschaftspolitische Basis verkümmern lassen.

Tatsächlich existiert sogar ein aktueller, leicht zugänglicher Hörspaziergang zur Maschsee-Kunst, den die Landeshauptstadt Hannover bei Tonspur Stadtlandschaft in Auftrag gegeben hat: Maschsee – Geschichte weiterdenken zielt exakt auf zeitgenössische Perspektiven ab. Dennoch findet die eitle Behauptung, man habe ein vernachlässigtes Thema exklusiv für sich entdeckt, in den sozialen Medien auf Zustimmung. Auf dem Profil des kulturpolitischen Sprechers der Grünen im hannoverschen Rat findet sich unwidersprochen unter anderem folgender Halbsatz eines Kunstprofis: „… dürfte wieder für die nötige Aufmerksamkeit für die Kunst im öffentlichen Raum und ihre Vermittlung und Übersetzung ins Hier und Jetzt sorgen.“ Nun ja.

Armut, Ampel, Aufbruch

Ein aktueller Audio Walk des freien hannoverschen Theaterkollektivs Frl. Wunder AG ist noch bis zum 30. September in der Innenstadt zu erleben. Schon wieder: Wohlfahren ist „eine Social-Fiction-Zeitreise vom Bahnhof über die Altstadt bis zur Oper“ und erzählt vor Ort von historischen und zeitgenössischen Umgangsweisen mit Armut – auf Wunsch mit einer interaktiven, GPS-basierten Karte. Brandneu ist eine Sammlung von interaktiven Audio Walks des Berliner Theaterkollektivs Rimini Protokoll – das seine partizipativen Hörstücke seit vielen Jahren mit großem Erfolg vor allem im Rahmen von Theaterfestivals präsentiert. The Walks heißt das Projekt ganz pragmatisch. Seine Besonderheit liegt in der Universalität: Wer sich die entsprechende App für ein paar Euro auf sein Smartphone lädt, kann sich durch acht zwischen 15 und 30 Minuten lange Bewegungserfahrungen im öffentlichen Raum lotsen lassen.

Das funktioniert weltweit in jeder Stadt – und hat doch einen jeweils individuellen Ortsbezug, da die Texte auf Ortstypologien zugeschnitten sind: Aufbruch zum Beispiel beginnt in der eigenen Wohnung, Ampel spielt mit Beobachtungen an einer Straße, Supermarkt ist für’s simultane Hören zu zweit konzipiert. Friedhof habe ich auf dem Fössefeldfriedhof in Limmer gehört: Das war inspirierend, nachdenklich, ausreichend respektlos und ausreichend respektvoll, mit kleinen Schrägheiten und Abwegigkeiten, mit niedrigschwelligen Handlungsanweisungen und ein wenig digitaler Vernetzung – eine poetische halbe Stunde, die den persönlichen Blick weitet und doch mit zahllosen Orten und Nutzer*innen in anderen Städten verbindet.

Interventionen in den Stadtraum an sich

Auch der Hamburger Künstler Jan Holtmann, Betreiber und Kurator der noroomgallery, zielt mit seiner Podcast-Reihe WarmUp For WALKING auf universelle Zusammenhänge von Stadt und Bewegung. Sie erscheint auf Soundcloud als Beitrag zum Kultursommer von ART OFF HAMBURG, einer Initiative freier Kulturorte. Gerade sind die ersten beiden Folgen erschienen, eine kluge Einführung über das Gehen an sich und eine kondensierte Whatsapp-Konversation mit der Stadtethnologin Katrin Wildner. Angekündigt sind im Abstand jeweils einiger Tage weitere prominente Gäste wie zum Beispiel der Künstler Bogomir Ecker, die Kunsthistorikerin Susanne König, Ole Frahm vom Kollektiv LIGNA, der Künstler Peter Piller oder der Spaziergangswissenschaftler Martin Schmitz.

Gemeinsam ist aktuellen Projekten wie The Walks oder WarmUp For Walking ihr Charakter als Interventionen in den Stadtraum an sich, in unsere Vorstellung und Wahrnehmung von Stadt, in die Art und Weise, wie wir uns in ihr bewegen, was wir von ihr erwarten, wie wir in ihr interagieren. Die Monate der pandemiebedingten Einschränkungen haben offenbar den Blick geweitet, haben gezeigt, wie wichtig es ist, grundsätzlicher über unsere Erwartungen und daraus dringend notwendige Konsequenzen nachzudenken. Auch die vorgestellten Audio-Interventionen sind keinesfalls ohne Zugangsschranken, auch wenn sie Kulturbürger*innen niedrigschwellig erscheinen mögen. Allerdings haben sie auch nie behauptet, den Stadtraum für alle öffnen zu wollen, haben keine knappe Viertelmillion Euro verschlungen – und benötigen für ihre Inszenierungen keine überdimensionalen Kulissen und kein überlautes Geklapper. Dennoch: Wie sich ein neues Nachdenken über die Bedürfnisse ALLER Nutzer*innen von Stadt auch bei jenen initiieren lässt, deren Fehlen bei Kulturveranstaltungen wir allzu oft nicht einmal bemerken, bleibt offen.

Parkplätze und Parkbänke

Ganz grundsätzlich braucht eine potentielle Rettung der Innenstädte mutige Perpektivwechsel statt Doktrinen und kapitalistische Festschreibungen, wie sie gerade in den heutigen Wahlkampfzeiten viel zu oft vorzuherrschen scheinen. Einzelhändler*innen und Gastronom*innen, die für den Fall, dass die SUVs ihrer Kund*innen nicht mehr unmittelbar vor ihren Geschäftsstandorten parken können, den Niedergang beschwören, sollten nicht länger als Maßstab dienen – zu viele Städte in aller Welt zeigen inzwischen, dass eine nachhaltige Belebung von Innenstädten nur gelingen kann, wenn wir umfangreich Stadtraum vom Individualverkehr zurückerobern.

Im Rahmen der ersten Experimentierphase des Hannoverschen Innenstadtdialogs im Juli begann das Stadtplanungsamt sein Projekt Hannover nimmt Platz, in dessen Rahmen sich Bürger*innen eine temporäre Parkbank an einen Ort ihrer Wahl wünschen können, auf der sie dann zu ihren Vorstellungen von Aufenthaltsqualität in der Innenstadt befragt werden. Ich hatte das Vergnügen, gleich am ersten Tag dabei zu sein. Meine Bank stand hinter der Oper auf einer Verkehrsinsel, mit großartigem Blick entlang der historischen (aber meist vergessenen) Lavesachse durch die Theaterstraße, über den Thielenplatz, unter der Bahnunterführung hindurch, durch die Königstraße, über die Berliner Allee bis zum Emmichplatz, der Musikhochschule und der Eilenriede. Man kann so weit nicht schauen, auch wegen des Verkehrs, aber die Perspektive im Kopf macht Spaß, über den Cityring hinaus, heraus aus der Innenstadt, geradewegs ins Grüne.

Zurück zur Normalität?

Das menschliche Gehirn folgt in der Regel dem Drang, Erinnerungen als schlüssige Erzählung ohne Widersprüche zu konstruieren (siehe auch hier). Das gilt vermutlich auch für die etablierten Stadt-Bilder in unseren Hinterköpfen. Das scheint doch alles immer irgendwie funktioniert zu haben… Produktive Veränderungen lassen sich also nur erreichen, wenn wir diese inneren Erzählungen und ihre kollektiven Verfestigungen aufbrechen. Gerade in und perspektivisch nach der Pandemie ist eine Weiterentwicklung dringend geboten – nicht nur von Stadt, sondern auch von Kunst und Kultur. Denn es kann in der Kunst kein „Zurück zur Normalität“ geben – schon alleine deshalb, weil es in der Kunst beides noch nie gab: Zurück und Normalität. Das sollte in Hannover als Stadt des schwitters’schen „Vorwärts nach Weit“ seit etwa 100 Jahren klar sein…

Wäre diese gar nicht so kurze Kurzbetrachtung ein Podcast oder ein Hörstück, sie bräuchte Musik. Ich hatte großen Spaß mit dem Songschnipsel in Jan Holtmanns erster Folge von WarmUp For WALKING: Move Your Ass And Your Mind Will Follow von Knarf Rellöm. Vielleicht hätte dieser Beitrag problematisierend begonnen mit einigen Zeilen aus Turbostaats Eine Stadt gibt auf: „Und es klappt nicht, von außen zu sanieren. Die Jungen merken das sofort, dass alles eine Lüge war, eine Attrappe einer Stadt. Reißt sie ab, schafft sie weg. Wir können sie nicht mehr verstehen.“ Und vielleicht würde er jetzt versöhnlich mit einem Plädoyer aus Kanten von Love A enden: „Wir müssen Risse haben, damit das Licht hinein kann. Wir müssen Kanten haben, damit es Risse gibt.“

PS

Würden Sie alle Hörspaziergänge, Audio Walks, Hörstücke, Audioguides und Podcasts hören, die ich in diesem Beitrag verlinkt habe, wären Sie schätzungsweise knapp zehn Stunden beschäftigt. Vielleicht bietet der August ja die eine oder andere Gelegenheit. Viel Spaß!

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