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Jochen Becker: Statement für „Kunst umgehen“ in Hannover

Statement für Kunst umgehen in Hannover

von Jochen Becker, Berlin

Kurz zu meinem Hintergrund: Ich arbeite als Kritiker und Kurator von Berlin aus, bin Gründungsmitglied von metroZones – Zentrum urbaner Angelegenheiten und zurzeit mit einem kleinen Team für zwei Werkstattkonferenzen für die Initiative Urbane Praxis, SITUATION BERLIN 1&2,verantwortlich.

Die Initiative Urbane Praxis ist ein Zusammenschluss von im Bereich urbaner Kulturen Arbeitender, um das in Berlin schon lange beackerte Feld der Urbanen Praxis auch institutionell zu verankern. SITUATION BERLIN berät und begleitet die Initiative Urbane Praxis und ist integraler Teil eben dieser. Die Projektgruppe des Kunstvereins neue Gesellschaft für bildende Kunst (nGbK) organisiert und kuratiert hierzu auf Initiative von Urbane Praxis und in Fortsetzung der Veranstaltung Urbane Kulturen (nGbK/Berlinische Galerie, 2019) eine zweiteilige Werkstatt-Konferenz zur Situation Berlin.

Situation

Wer macht Stadt und mit welchen Kulturen? Wie formuliert sich ein Recht auf Stadt ohne Rechthaberei?

Berlin ist geprägt von eigensinnig initiierten, von selbstorganisierten Bauten und einer reichen sozialen Kultur. Das Recht auf Stadt wird von vielen mit Mitteln der Künste, Gestaltung, Planung und Aktion erstritten und praktiziert. So schlägt die Initiative Urbane Praxis vor, mit der ausgeweiteten Förderung von thematischen Projekten auch experimentelle Ansätze für spezifische stadträumliche Themen und Problemlagen zu erproben.

Die Werkstatt-Konferenz SITUATION BERLIN 1 im vergangenen Mai erläuterte auf Grundlage einer Bestandsaufnahme der aktuellen Berliner Situation historische Rückblicke wie auch neue Wege und Praktiken für eine Stabilisierung Urbaner Praxis und urbaner Kulturen. Ziel war, das große Potential von künstlerischen, gestalterischen und aktivistischen Verfahrensweisen angesichts derzeitiger umfassender Herausforderungen zu untermauern.

Der Werkstatt-Konferenz im Mai schließt sich die Erarbeitung einer handlungsanleitenden Dokumentation und eine zweite Konferenz im November an. Dies umfasst, ein Glossar Urbaner Praxis bereitzustellen und ein Manifest eben dieser auf den Weg zu bringen.

Aktionsplan

Die Stadt verfügt über eine Vielzahl erfahrener Akteur*innen aus dem Feld Urbaner Praxis. Mit der Umsetzung des Aktionsplans soll für diese Akteure eine stabile Arbeitsgrundlage geschaffen werden. Im Zuge der krisenhafte Entwicklung von Stadt müssen diese Expert*innen langfristig und nicht nur über punktuelle Projektförderungen in Veränderungsprozesse eingebunden werden.

Die Initiative Urbane Praxis arbeitet an einem Kulturwandel in Berlin, um zu klären, in welcher Art Stadt wir künftig zusammenleben wollen. Dazu gehören physischer Raum, Umwelt, Prozesse, Artefakte, Kommunikationen, Formen der Interaktion wie auch die Verknüpfung von Stadtraumqualitäten und künstlerischen Praxisformen.

Post-Disziplin

Die Sammelbewegung Urbane Praxis speist sich als post-disziplinäre Arbeit aus drei Richtungen: der künstlerischen und kuratorischen, der urbanistisch-planenden und gestalterisch-bauenden sowie der soziokulturellen und sozialarbeiterischen Praxis. Wie genau stehen diese Handlungsweisen zueinander, welche „Eigenlogiken“ begleiten sie, was lässt sich im Sinne einer selbstkritischen Post-Disziplinarität von den Praxen und Standards der anderen Bereiche lernen?

Past/Present/Future

Die aktuelle Ausprägung Urbaner Praxen in Berlin resultiert aus dem Fall der Mauer, nach dem durch Zwischennutzungen im städtischen Neugefüge neue künstlerische, bauliche und soziale Prozesse auf ihre zukünftige Umsetzbarkeit überprüft wurden.

Die geteilte Geschichte einer für das aktuelle Berlin-Verständnis prägenden kulturellen, sozialen und politischen Neusortierung ist bislang nur unzureichend aufgearbeitet sowie verfügbar gemacht worden. Braucht es neben passenden Förder- und Administrations-Elementen ein Study House, wie es die kunstpolitische Initiative Haben & Brauchen forderte?

What’s next?

Die derzeitige Pandemie hat den Druck auf Stadtentwicklung (mietenpolitische Bewegungen, Frage der Peripherien), sozialen Zusammenhalt (Zunahme sozialer und rassistischer Spaltungen, fehlendes Wahlrecht für ein großen Teil der städtischen Bevölkerung, hohe Fluktuation der Stadtbewohner*innen, Zunahme der Diversität sowie simpler Identitätspolitiken) und die ästhetischen Praxen (unzureichend flexible Förderpolitiken, wachsende Regulationsdichte durch Verwaltungs- statt Produktionsperspektive, Verfestigungen des Kunstmarkts, neuer Provinzialismus) verstärkt.

Wie können diese Krisen antizipiert und abgewendet werden? Wie lässt sich eine Urbane Praxis in strukturelle und institutionelle Bahnen leiten und festigen, ohne dabei zu versteinern? Wie also lassen sich neue Formen des Zusammenlebens in der Stadt umsetzen, die auf die verborgenen Geschichten und Fragmente der Vergangenheit zurückgreifen, aktuelle Probleme ansprechen und sich an der Zukunft orientieren?

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