05. September 2021 – Kurzbetrachtung: Vom Mehrwert der Veränderung des Betrachtungswinkels
So. 05.09. | ab 12.00 (bleibt digital verfügbar)
Kunst umgehen: Kurzbetrachtung
von Anna Grunemann
Die Kurzbetrachtungen sind ein neues Format bei Kunst umgehen: Jeweils ein Mitglied des Vermittlungsteams lässt Sie teilhaben an Ideen, Assoziationen, Neuigkeiten und Meinungen zu Kunst in öffentlichen Räumen. Hier ist öffentlicher Raum für individuelle Perspektiven nicht nur auf einzelne Objekte oder Projekte in Hannover und der Welt, sondern auch auf Bezüge, Potentiale oder Defizite.

Vom Mehrwert der Veränderung des Betrachtungswinkels
Betrachtungen aus der Nische heraus
von Anna Grunemann (im Dialog mit Christiane Oppermann)
Die Reihe Sculpture Transfer von Kunst umgehen ist eine Nische. Das ist schonmal klar.
Für diejenigen, die noch nie bei einem solchen Format anwesend waren, folgt hier schonmal die etwas ausholende Erklärung: Christiane Oppermann und ich kennen uns seit dem Studium in Hannover, wobei sie damals bereits in der Dozentinnenrolle war und die Studierende ich. Sie hat mich für die Arbeit mit und im öffentlichen Raum ermutigt und begeistert. Seit 2011 performen wir in losen Abständen gemeinsam und seit 2015 arbeiten wir künstlerisch immer ortsbezogen und abhängig vom jeweiligen Ort unter dem Label AG&CO zusammen.
Die Initiationsausstellung fand 2015 in der Galerie vom Zufall und vom Glück statt. Die im Eingangsbereich auf freistehender Wand befindliche Textarbeit ICH BIN (vordere Wandseite) DAS GROßE BEDENKEN (hintere Wandseite), ist so etwas wie das Programm unserer Zusammenarbeit.
Als Kollektiv stellen wir uns einer großen Herausforderung: Zwei autonom agierende Künstlerinnenpersönlichkeiten begegnen sich zu und in einer gemeinschaftlichen Untersuchung von Orten verschiedener Konnotation, mit dem Vertrauen und dem Ziel, etwas gemeinsam Gültiges zu schaffen, das im Falle einer performativen Handlung – abgesehen von Ortsbesichtigungen und wenigen Vorabsprachen – quasi aus dem Moment heraus entwickelt wird und nicht schon durchchoreographiert ist.
Beim Sculpture Transfer passiert diese Zusammenarbeit im Echo auf ein Kunstwerk im öffentlichen Raum oder einen öffentlichen Raum selbst. Wir selbst untersuchen dabei unsere eigene Wahrnehmung dieser Arbeit/dieses Raumes im Verhältnis zu unserem Körper – dem eigenen sowie dem Körper unseres Kollektivs. Es ist ein bisschen wie zweihändig Klavierspielen – eine Art Improvisation, wobei die rechte und die linke Hand unterschiedliche Melodien und Rhythmen spielen, die sich durchkreuzen und überlagern können oder sich gegenseitig unterstützen und ergänzen, so dass sich für die Betrachter*innen hoffentlich ein Mehrwert der Wahrnehmungsschärfung ergibt. Diese Improvisation gelingt dann am besten, wenn unsere Konzentration auf das eigene Tun durchdrungen ist von der Wahrnehmung des Ortes und die eine spürt, was die andere tut, ohne dies explizit zu beobachten. Hier wird der siebte Sinn aktiv.
Das wäre der Idealfall und das ist auch Kunstvermittlung – nonverbal, versteht sich.
Aber es ist nicht wie eine Führung, bei der wir im Vorfeld wissen, welche Referenzen zu den jeweiligen Künstler*innen/Kunstwerken vermittelt werden sollten, sondern es ist ein expemplarisches Innehalten, Spüren und Neuentdecken, eben ein sichtbar werdendes BEDENKEN, welches aus dem Sein im Moment – dem ICH BIN – geleistet und in Handlung überführt wird. Wer sich darauf einlässt, kann an dieser Untersuchung beobachtend teilhaben, mit uns ungewohnte Perspektiven einnehmen und neue Erfahrungen und Eindrücke zu häufig übersehenen Werken und für gewöhnlich zu schnell passierten Orten gewinnen.
Unsere jeweiligen Blickwinkel werden dabei suchend oder gezielt, immer aber situativ, neu justiert, womit jeder Sculpture Transfer auch für uns Performerinnen jeweils ein Mehrwert ist.
Es ist immer auch ein Experiment mit ungewissem Ausgang – die Gefahr des Scheiterns inklusive.
Von einzelnen Beobachter*innen wissen wir, dass sich eine Art Eingucken in derartige Seherlebnisse und auch Klangerlebnisse einstellt und sie die von uns erzeugten Bilder mehr und mehr als lesbare und verständliche Bilder wahrnehmen.
Der Betrachtungswinkel auf den jeweiligen Sachverhalt wird also durch das Tun beim Sculpture Transfer gefiltert und mit neuen Echos unterlegt, manchmal auch konfrontiert. Mitunter erzeugen wir lediglich vorhandene Klänge in einer Weise, dass sie daraufhin als immanent in den Räumen/Werken existierende Klänge wahrgenommen werden können.
Unsere Untersuchungen beziehen sich natürlich auf unser persönliches Interesse an den Arbeiten und Räumen und so würden andere Performer*innen sicher zu ganz anderen Ergebnissen kommen.
Richtigstellung
Sculpture Transfer zum Innenstadtdialog am 11. Juli 2021
Im Rahmen des ersten Innenstadtdialogs der Landeshauptstadt Hannover haben wir unter dem Titel Richtigstellung mit 20 Drängelgittern und diversen Leitern den Theodor Lessing Platz vor der Städtischen Galerie KUBUS und den Durchgang zwischen Galerie vom Zufall und vom Glück und KUBUS untersucht.
Ihnen ist natürlich die Doppeldeutigkeit des Titels nicht verborgen geblieben. Spätestens wenn die Stellungen hier im Foto zu sehen sind, wird der Titel klar.
Aber eigentlich resultiert der Titel aus der Presseankündigung der Stadt, die den Sculpture Transfer als Straßentheater ankündigte. Das ist er nun mitnichten und es gehörte richtiggestellt.
Wenn wir mit Gittern und Leitern den öffentlichen Raum – in diesem Fall einen Durchgangsraum – neu ordnen und rhythmisieren, installiertes Stadtmobiliar und andere Gegenstände oder auch Passanten ein- und ausgrenzen, kann sich ein tieferes Verständnis für die Dynamik und Potenzen des so bespielten Raumes ergeben.
Foto- und Videodokumentationen transportieren immer nur Ausschnitte des Raumes und geben das Geschehen, die Atmosphäre und energetische Aufladung des Ortes durch die dort handelnden Personen nur rudimentär wieder. Erst recht Videoaufnahmen sind quasi nie in der Lage, Performances so wiederzugeben, dass sich das einstellt, was vor Ort wirklich passierte. So gehen Dokumentationen an dem vorbei, was Performance ist und sein will: ein Jetztzeitphänomen, das sich per Definition nicht in ein anderes Medium übertragen lässt und das Vorortsein der Betrachter*innen verlangt, um diesem eine Neujustierung seiner Wahrnehmung zu ermöglichen.
Und dass das durchaus gelingen kann, zeigt eine Situation, welche im Nachhinein von mir entdeckt wurde – jugendliche Passanten ließen sich in der stehen gebliebenen Installation nieder, nahmen diesen neuen Raumrhythmus ganz selbstverständlich als gegeben an und richteten sich nach diesem aus.

Der junge Mann, der am Gitter sitzt, hätte sich ohne dieses Gitter an diesem Ort wohl nie so weit entfernt zur Gruppe niedergelassen. So etwas geschieht unbewusst und hat etwas mit der Inbesitznahme bei der Anwesenheit in öffentlichen Räumen zu tun. Dabei ist die Inbesitznahme in der Regel von der Annahme der Gegebenheiten der vorgefundenen Räume gekennzeichnet.
Wir lassen uns dort nieder, wo wir Bedingungen vorfinden, die uns behagen oder unseren Bedürfnissen entsprechen. Der junge Mann hat also auf die neue Situation annehmend reagiert und diese als annehmbar empfunden.
Die Innenstadt neu zu denken und zu befragen, funktioniert auf intuitive Weise ganz hervorragend, wie dieses Beispiel zeigt. Die Schwierigkeit ergibt sich wohl eher daraus, diese intuitiven Äußerungen wahrzunehmen und in eine Neuordnung und Justierung der Innenstadt zu überführen.
Dabei wünschen wir den Profis in der Stadtverwaltung viel Erfolg und eine sensible Wahrnehmung, die im übrigen, wie dieses Beispiel zeigt, auch ganz haptisch erfolgen kann.
Bitte beachten Sie, dass am Erscheinungstag dieses Beitrags ein weiterer Sculpture Transfer im Rahmen des Innenstadtdialogs der Landeshauptstadt Hannover stattfindet:
So. 05.09. | 13.00 bis 15.00
analog vor Ort
Kunst umgehen: Sculpture Transfer Innenstadt
Der Durchgangsraum (Passage zwischen dem Innenhof des Schauspielhauses und der Theaterstraße im Haus Theaterstraße 3)
In ihren Performances der Reihe Sculpture Transfer fragen Anna Grunemann und Christiane Oppermann regelmäßig nach den Potentialen öffentlicher Räume. Im Rahmen des Innenstadtdialogs thematisieren sie die Funktion von Passagen und Schleusen sowie Übergangs- und Zwischenräumen für die Innenstadt Hannovers. Welche Räume brauchen eine Definition, welche müssen sich als Leerstellen Offenheit und Flexibilität bewahren? Und welche Rolle kann die Kunst dabei spielen? Im Anschluss an die Performance diskutieren die Künstlerinnen das Erlebte und mögliche Bezüge mit ihrem Publikum.