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12. September 2021 – Kurzbetrachtung: Terrain abstecken

So. 12.09. | ab 12.00 (bleibt digital verfügbar)
Kunst umgehen: Kurzbetrachtung
von Thomas Kaestle

Die Kurzbetrachtungen sind ein neues Format bei Kunst umgehen: Jeweils ein Mitglied des Vermittlungsteams lässt Sie teilhaben an Ideen, Assoziationen, Neuigkeiten und Meinungen zu Kunst in öffentlichen Räumen. Hier ist öffentlicher Raum für individuelle Perspektiven nicht nur auf einzelne Objekte oder Projekte in Hannover und der Welt, sondern auch auf Bezüge, Potentiale oder Defizite.

Terrain abstecken

zwischen Hannovers Innenstadt und überregionalen Diskursräumen

von Thomas Kaestle

Wie könnte es weitergehen mit der Kunst im öffentlichen Raum der Landeshauptstadt Hannover? Im Rahmen des zweiten Innenstadtdialogs hatte ich vor einer Woche in den Maestro-Saal des Künstlerhauses Hannover eingeladen: zu einem ergebnisoffenen Austausch über die Möglichkeiten von Kunst im öffentlichen Raum, vor allem in innerstädtischen Räumen. Da die Runde eine kleine war, nutze ich die Gelegenheit, ihre Themen in dieser Kurzbetrachtung für eine breitere Öffentlichkeit zusammenzufassen.

16 Jahre Diskurs

Der hannoversche Diskurs um einen zukünftigen Umgang mit Kunst im Stadtraum hat zuletzt durch den von mir im Jahr 2005 für den Kunstverein Hildesheim konzipierten künstlerischen Ideenwettbewerb für einen Entsorgungspark für funktionslose Kunst im öffentlichen Raum, die hierdurch inspirierte zweiwöchige Serie Kann das (hier) weg? in der Hannoverschen Allgemeinen Zeitung, das folgende HAZ-Forum in der kestnergesellschaft und das hierauf vom damaligen Oberbürgermeister Herbert Schmalstieg in Auftrag gegebene und von mir für eine temporäre Kommission im Jahr 2008 verfasste Gutachten Tradition und Innovation. Stand der Kunst im öffentlichen Raum im Innenstadtbereich Hannover. Perspektiven für deren Pflege und Entwicklung deutlich an Dynamik gewonnen.

Was ist da? Was sollte bleiben? Was verdient einen anderen Standort und neue Wirksamkeit? Was ist misslungen, wo liegen verborgene Schätze? Welche Strategien haben sich in der Vergangenheit bewährt, welche haben sich überholt? Welche neuen Schwerpunkte und Herangehensweisen könnten sich lohnen? Wie lässt sich Bestand aus der Vergangenheit beleben? Und wie lässt er sich ergänzen durch ganz neue Kunst in ganz neuen Situationen und unter ganz anderen Vorzeichen? Seit dem Jahr 2013 versuchen Anna Grunemann, Christiane Oppermann und ich als Team des Vermittlungsprogramms Kunst umgehen im Auftrag des Kulturbüros der Landeshauptstadt Hannover, solche grundsätzlichen Fragen immer wieder neu anzuschubsen – und ihnen ergänzende zur Seite zu stellen.

Kunst im Dreieck

Auch Hannovers Bewerbung als Europäische Kulturhauptstadt 2025 griff einige davon auf: im Rahmen eines generellen Nachdenkens über Kultur im Stadtraum und die Transformation öffentlicher Räume. Auch wenn Hannover den Titel nicht erlangen konnte, hat sich die Stadtverwaltung vorgenommen, einiges davon weiterzudenken und in veränderten Zusammenhängen (und gezwungenermaßen mit weniger Budget) umzusetzen – in einer Verschränkung mit Zielen aus dem Kulturentwicklungsplan, der ebenfalls im Rahmen der Kulturhauptstadtbewerbung entstand, als Zukunftsplan Kultur. Im Kulturentwicklungsplan steht unter der Überschrift „Kunst im öffentlichen Raum bewahren und erneuern“ unter anderem: „Neue Kunst – in der Regel temporäre – soll auch Raum finden. Entsprechende Konzepte, Programme, Projekte, Initiativen und Rahmensetzungen sollen unter Einbindung des Gremiums “Kunst im öffentlichen Raum” von Expert*innen – auch innerhalb der Verwaltung – entwickelt und von der Kulturverwaltung koordiniert werden.“

Dies lässt zahlreiche Umgangsweisen mit dem Thema zu. Der jetzt stattfindende Innenstadtdialog der Landeshauptstadt Hannover spitzt das Thema als eines von vielen beim Nachdenken über eine Belebung innerstädtischer Räume auf konkretere Fragestellungen zu – gerade in seinem zweiten Teil im zukünftigen Kulturdreieck, das vom Staatstheater Hannover (mit Schauspielhaus und Opernhaus) und dem Kunstverein Hannover gemeinsam mit dem Kulturdezernat entwickelt werden soll. Einige dieser Fragestellungen habe ich bereits im digitalen Forum zum Innenstadtdialog zusammengefasst: „Was kann Kunst im Stadtraum? Was soll sie? Welche Kunst braucht die Innenstadt? Was kann Kunst zu Stadtentwicklungsprozessen beitragen? Kann sie die besseren Fragen stellen? Soll sie konfrontieren oder integrieren?“

Sieben Polaritäten (und eine halbe)

Für eine breite öffentliche Diskussion lässt sich die Frage nach Möglichkeiten und Spielarten einer Kunst im öffentlichen innerstädtischen Raum auch auf eine Reihe von Polaritäten herunterbrechen, die nie eine eindeutige Entscheidung voraussetzen, sondern immer zwei Enden eines Möglichkeitsspektrums benennen, in dem sich die Kunst jeweils irgendwo verortet:

  • Tradition oder Innovation?
    Wie viel Altes braucht ein Stadtraum? Wie viel Neues? Wie lässt sich historischer Bestand so präsentieren und vermitteln, dass er einerseits auf seine Entstehungszusammenhänge (Kulturpolitik, Kunstbegriffe, Stadtentwicklungsbegriffe, Gesellschaftsmodelle, Ansprüche und Visionen der jeweiligen Zeit) verweist, andererseits für ein zeitgenössisches Alltagserleben von Stadtraum anschlussfähig bleibt? Wie viel Vertrautes brauchen innerstädtische Orte, um Aufenthaltsqualität und Wohlfühlzonen herzustellen? Und wie viel Herausforderung brauchen sie, Elemente die neugierig machen, Geheimnisse bereithalten, Menschen und Dinge in Bewegung versetzen? (Nicht zuletzt trug mein Gutachten für die Landeshauptstadt Hannover im Jahr 2008 einen Titel, der auf diese Polarität verwies.)
  • dauerhaft oder temporär?
    Kunst im Stadtraum für die Ewigkeit zu installieren, ist ein Konzept, von dem viele Städte zunehmend abrücken. Dennoch ist die historische Kunst nun einmal da, definiert Orte und Räume und prägt Perspektiven. Das Stadtraumgedächtnis vieler Bürger*innen ist kurz: Dass ein Objekt im Laufe von Jahrzehnten mehrfach seinen Standort gewechselt hat, wird kaum erinnert – der aktuelle wird häufig absolut gesetzt. Viele Städte sind nahezu bis an Belastungsgrenzen angefüllt mit dauerhafter Kunst – die jeweils für Machtbehauptungen jener steht, die sie initiiert haben. Ist noch Platz für mehr? Liegt die Lösung in temporärer Kunst, die wieder verschwindet? Wie wertvoll ist die Erinnerung an etwas, das nicht mehr da ist, für die Wahrnehmung eines innerstädtischen Raums? Was geschieht mit Objekten, die einfach stehenbleiben? Was mit solchen, die so beliebt werden, dass sich eine Mehrheit ihr bleiben wünscht, obwohl sie temporär konzipiert wurden? Wann verliert Kunst ihre Lesbarkeit? Welche Lesehilfen kann es geben?
  • unverrückbar oder dynamisch?
    Stadtraum ist nichts Festgefügtes. Er ist ständig im Fluss, nur selten verlässlich planbar, setzt sich immer wieder neu zusammen aus Handlungen, Perspektiven und Geschichten seiner Nutzer*innen. Der Stadtsoziologe Hartmut Häußermann definierte Urbanität als eine Mischung aus Ungleichheit (möglichst unterschiedliche Menschen, die eine Stadt nutzen), Ungleichzeitigkeit (gewachsene Räume mit Bestandteilen aus möglichst vielen unterschiedlichen Zeiten) und Ungleichwertigkeit (möglichst viele unterschiedliche und kleinteilige Besitzverhältnisse). Wie kann in einem so dynamischen Stadtraum Kunst für eine bestimmte Zeitdauer existieren? Muss sie flexibel bleiben? Oder soll sie als eine Konstante bestehen?
  • materiell oder immateriell?
    Muss Kunst im Stadtraum immer eine Art von Objekt oder Installation sein? Welche Rolle spielt ihre Materialität? Kann eine Arbeit dezentral sein, sich auf einen Stadtraum verteilen? Kann Kunst aus Kommunikation bestehen? Aus Ideen, Konzepten, Träumen oder Gerüchten? Kann sie sich in Köpfen manifestieren und so mobil werden? Wie wichtig sind soziale Prozesse für eine Kunst im öffentlichen Raum geworden – als Material oder Ergebnis? (Hilkes Marit Berger zitiert hierzu in ihrer Dissertation Handlung statt Verhandlung. Kunst als gemeinsame Stadtgestaltung, über die ich mich im Rahmen des ersten Innenstadtdialogsin einem Forum unterhalten habe, den Künstler Jeremy Deller: „I went from being an artist who makes things to being an artist who makes things happen.”)
  • kritisch oder affirmativ?
    Darf Kunst das Bestehende bestätigen, indem sie nur illustriert, kommentiert oder dekoriert? Darf sie gefällig sein? Beliebt? Darf Kunst gemocht werden? Muss sie nicht sogar gemocht werden, um einen niedrigschwelligen Zugang zu ermöglichen? Oder soll sie sperrig sein, um die Ecke denken, auf Leerstellen und Missstände hinweisen? Soll sie den Finger in Wunden legen und zum Nachdenken anregen, zum kritischen Diskurs? Wie schön darf Kunst sein? Wie bunt? Was passiert, wenn einst kritische Kunst im Laufe der Jahrzehnte ihren Biss verliert, nicht mehr in ihren ursprünglichen Zusammenhängen gelesen und nur noch als harmlos empfunden wird? Kann sich die Kritik von Kunst verbrauchen? Hat kritische Kunst irgendwann ihre Schuldigkeit getan? Soll Kunst den Stadtraum gestalten, mit ihm harmonieren, sich einfügen und ihn attraktiver machen? Wann wird Kunst zu Design? (Der hannoversche Künstler János Nádasdy hat als Teil seiner Aktion Wohnsperre-Wohnkäfig zum Auftakt des dreijährigen Experiment Straßenkunst der Landeshauptstadt Hannover bereits im August 1970 auf der Wiese vor dem Leineschloss ein Flugblatt verteilt, mit dem er zu affirmative Kunst kritisierte. Unter der Überschrift „straßenkunst: vorwand für hannover-werbung“ hieß es darin unter anderem: „kunst im dienst hannovers / kunst wird hier verhunzt“.)
  • frei oder lösungsorientiert?
    Darf Kunst von außen gesetzten Zwecken folgen? Ist beauftragte Kunst noch frei? Welchen Kriterien folgt diese Freiheit? Wie viel darf ein Auftrag vorgeben oder voraussetzen? Wann werden Künstler*innen zu Kunsthandwerker*innen oder Designer*innen? Wie lösungsorientiert darf Kunst selbst dann sein, wenn ihre Inhalte, Konzepte oder Motive von den Künstler*innen selbst gesetzt werden? Wie lässt sich einer Instrumentalisierung vorbeugen, im Rahmen derer Künstler*innen Probleme lösen sollen, die Politik, Verwaltung oder Wirtschaft nicht lösen können oder wollen? Darf Kunst Sozialarbeit sein? Wem darf sie nutzen? Darf sie weiße Westen für dubiose Konzerne erzeugen?
  • integrativ oder konfrontativ?
    Auf diese Polarität lassen sich alle anderen notfalls reduzieren. Kunst kann ganz hervorragend Situationen erzeugen, in denen sie Menschen in Kontakt und in Kommunikation bringt, in denen sie Rahmen setzt, vermittelt, soziale Orte erzeugt, Identifikation und ein Zugehörigkeitsgefühl erzeugt. Und sie kann auch ganz hervorragend provozieren, Menschen zum Innehalten bringen, Auseinandersetzungen anregen, Kritik üben, aufdecken und aufklären, stolpern lassen, erschrecken und agitieren. Was soll sie, was darf sie? Ist sie nicht immer eine Mischung aus diesen Faktoren? Welche Kunst hat welche Anteile? Welche kann in welchen Situationen besonders viel erreichen? (Auf den hannoverschen Innenstadtdialog bezogen: Soll Kunst Aufenthaltsqualität durch Wohlgefühl erzeugen oder Identifikation durch aufrichtige Auseinandersetzung? Geht beides? Wie?)
  • Bei einer Tagung der Kulturpolitischen Gesellschaft am 1. und 2. September 2021 stellte Thomas Renz vom Institut für Kulturelle Teilhabeforschung in Berlin eine weitere Polarität vor, die sich auch auf Kunst in öffentlichen Räumen übertragen lässt: Wie lässt sich für Kultur mehr und neues Publikum erreichen: durch eine Vermittlung des Abstrakten in der Kunst oder durch eine Integration des Populären in die Kunst?

Statements und Übertragbarkeiten

Als Diskussionsgrundlagen standen bei meiner Veranstaltung im Künstlerhaus vor einer Woche außerdem vier Statements im Mittelpunkt, die ich exklusiv bei vier Expert*innen in anderen deutschen Großstädten für das vorangegangene digitale Forum angefragt hatte: bei Heike Mutter und Ulrich Genth in Hamburg, bei Rose Pfister in Bremen, bei Heinz Schütz in München und bei Jochen Becker in Berlin. Sie sollten als ganz persönliche Positionierungen zum Thema „Kunst und Innenstadt“ auf Erfahrungen, Erlebnissen, Beobachtungen und Bezugstheorien beruhen. Ich werde im Folgenden kurz die Statements und ihren Beitrag zu unserem Diskurs erläutern.

Vorab ist mir jedoch wichtig, auf die Frage nach der Übertragbarkeit konkreter Projekte hinzuweisen. Die Wiener Künstlerin Barbara Holub, Teil des interdisziplinären Labels transparadiso, mit der wir uns im Rahmen unseres Forums Direkter Urbanismus als interdisziplinäre Praxis unterhalten haben, sagt dazu: „Jeder Ort ist speziell, der gesellschaftliche, politische, urbane Kontext ist speziell und die handelnden Personen sind speziell. Wenn etwas in einem Jahr gelingt, heißt es noch nicht, dass es auch im nächsten Jahr gelingt. Man kann nur insoweit etwas aus Projekten lernen, dass an gewissen Orten in gewissen Konstellationen gewisse Dinge möglich sind – und aus dieser Erfahrung, diesem Vertrauen heraus kann man frech sein und sich Dinge trauen, die man sich vielleicht sonst nicht trauen würde.“

Heike Mutter und Ulrich Genth …

… agieren von Hamburg aus international künstlerisch, Mutter ist dort zudem Professorin an der Kunsthochschule, Genth Mitglied der Kunstkommission.

Sie beginnen ihr Statement mit einem klaren Bekenntnis zu den Potentialen der Kunst im öffentlichen Raum: „Vor allem kann sie Leidenschaft in oftmals funktional und kommerziell organisierte stadträumliche Gefüge einbringen. Im Idealfall schafft es Kunst im öffentlichen Raum, Bürger*innen so zu faszinieren, dass damit Verhandlungsräume jenseits der gewohnten und eingespielten Abläufe entstehen.“ Es geht Mutter/Genth dabei um eine Aktivierung von Bürger*innen – und um den öffentlichen Raum als Verhandlungs- und Diskursraum, also letztlich um die Agora, die auch zentral für die hannoversche Kulturhauptstadtbewerbung war. Dabei wünschen sie sich eine „Kultur der Kunst im öffentlichen Raum“, die über einzelne Projekte hinaus geht, ein synergetisches Zusammenwirken verschiedenster Akteur*innen und Institutionen in Netzwerken –  als Teil einer „stadtweit geführten künstlerischen Auseinandersetzung“.

Mutter/Genth stellen das Hamburger Modell eines offenen Budgetpools für Kunst im öffentlichen Raum vor, aus dem Künstler*innen freie Projektförderung beantragen können: „Er ermöglicht es den Akteur*innen, sich selbst zu organisieren und mit relativ kurzer Reaktionszeit Projekte zu realisieren, die das politische und soziale Gefüge der Stadt in den Blick nehmen und aktuelle Probleme aufgreifen. […] Es entsteht Gegenöffentlichkeit und Kritik innerhalb der Stadtgesellschaft.“ Ein weiterer wesentlicher Faktor sei auch das Niveau, auf dem in einer Stadt regelmäßig über Kunst im öffentlichen Raum diskutiert werde. Mutter/Genth verweisen auf Einschränkungen des Öffentlichen durch private und kommerzielle Interessen. Außerdem fordern sie: „Das Wissen um die Kunst im öffentlichen Raum einer Stadtgesellschaft sollte gebündelt, dokumentiert und archiviert werden.“ Für ihre eigene künstlerische Praxis spiele das Unerwartete eine wichtige Rolle: „Wenn Gewohnheiten durchbrochenen werden, können Projekte gegen Passivität und erlernte Hilflosigkeit mobilisieren.“ Sie sprechen sich für Auseinandersetzungen und Ambivalenzen aus: „In einer Stadtgesellschaft entfalten gerade kontroverse Projekte eine große Wirkung und können helfen, Diskurse anzuregen und weiter zu bringen.“

Das vollständige Statement von Heike Mutter und Ulrich Genth finden Sie hier.

Rose Pfister …

… war über 30 Jahre lang Referentin und Referatsleiterin für bildende Kunst und Kunst im öffentlichen Raum beim Senator für Kultur Bremen.

Sie fragt zunächst nach realistischen Ansprüchen an eine Kunst im öffentlichen Raum: „[…] seit den 70er Jahren gibt es in vielen Städten entsprechende kunstpolitische Programme. Hat sich dadurch die Stadt verändert? Schwierige Frage. […] Kunst kann schwierige öffentliche Räume nicht heilen. Damit überfordern wir die Kunst und die Künstler*innen.“ Kunstwerke könnten hingegen „die Wahrnehmung von Stadt verändern“, indem sie erinnert, reflektiert, Strukturen offenlegt und Orte definiert. Und: „Sie stellen sich mit ihrer Eigenwilligkeit der Funktionalität des öffentlichen Raum entgegen und sind damit ein wichtiges Element für/von Urbanität.“

Pfister fokussiert auf das Erleben von Zeit im Stadtraum: „Kunstwerke im öffentlichen Raum tragen wie die Architektur zur Erinnerungsstruktur der Stadt bei. Vergangenes und Gegenwärtiges, unterschiedliche künstlerische Strategien und Haltungen, überlagern sich. In einer sich ständig verändernden Stadtlandschaft schaffen sie symbolische Orientierungen, die den Wandel sichtbar und erlebbar machen.“ Sie resümiert: „Damit wird Identität ermöglicht.“ Als wesentliche Bedingung für das Gelingen von Kunst im öffentlichen Raum benennt Pfister eine kollektive Bereitschaft: „Kunstwerke im öffentlichen Raum können nur Wirksamkeit entfalten, wenn sie insgesamt eingebunden sind in den Willen einer Stadtgesellschaft, den öffentlichen Raum zu gestalten und zu pflegen.“

Das vollständige Statement von Rose Pfister finden Sie hier.

Heinz Schütz …

… ist promovierter Kunsttheoretiker und -kritiker und gab für das Magazin KUNSTFORUM International mehrere Themenbände heraus, unter anderem Urban Performance I/II.

Er denkt über den Charakter von Stadtraum als öffentlichem Raum nach: „[…] wobei „öffentlich“ hier auf der Vorstellung eines „demokratischen“, für alle zugänglichen und frei betretbaren Raumes basiert, eines Raumes, dem nicht zuletzt ein Versammlungs- und im Extremfall Aufruhrpotenzial eignet.“ Er ergänzt: „Öffentlichkeit, zunehmend zersplittert in Teilöffentlichkeiten, entsteht heute mehr denn je über mediale und digitale Netzwerke. Sie affizieren auch die Bedeutung von Stadträumen.“ Schütz legt bei der Auseinandersetzung mit Stadtraum Wert auf Kontexte, Bezüge, Einflüsse und individuelle Situationen: „Der Stadtraum ist kein Abstraktum und kein neutrales Gefäß. Als architektonisches Gefüge besteht er aus Gebäuden, Straßen, Plätzen und Parks. Sie konstituieren einen sozialen Raum, der Hierarchien, Ein- und Ausschlüsse, Macht und Ohnmacht, Reichtum und Armut reproduziert.“

Schütz weist auf den Rahmencharakter der gebauten Stadt hin, die erst durch Nutzer*innen definiert werde: „[…] die Stadt entsteht erst durch ihren Gebrauch. Sie ist gewissermaßen ein performatives Gebilde, wobei etwa, nimmt man die Auswirkungen zum Maßstab, die Performance der Immobilienkurse und ihr Einfluss auf das Mietniveau und damit die soziale Schichtung der MieterInnen zwangsläufig jede Kunst-Performance in den Schatten stellt.“ Kunst schreibt Schütz die Kraft zu, solche Definitionen frei zu verschieben, ohne auf pragmatische Beschränkungen anderer Disziplinen Rücksicht nehmen zu müssen: „Relevanter wird sie allerdings, wenn sie in den Stadtraum als Konstrukt eingreift und damit sozusagen das „Stadtgefäß“ neu konstruiert und sei es auch zwangsläufig nur im kleinen Maßstab.“

Das vollständige Statement von Heinz Schütz finden Sie hier.

Jochen Becker …

… arbeitet als Kritiker und Kurator von Berlin aus, ist Gründungsmitglied von metroZones – Zentrum urbaner Angelegenheiten und zurzeit mit einem kleinen Team für die beiden Werkstattkonferenzen SITUATION BERLIN 1&2 für die Initiative Urbane Praxis verantwortlich.

„Wer macht Stadt und mit welchen Kulturen? Wie formuliert sich ein Recht auf Stadt ohne Rechthaberei?“, fragt er – und nimmt dabei in den Blick, dass das Gestalten von Stadt immer auch Machtbehauptung ist. Umso wichtiger ist seine Forderung nach guten Bedingungen für ein post-disziplinäres Expert*innen-Netzwerk, das strukturell und nachhaltig gefördert wird: „Die Stadt verfügt über eine Vielzahl erfahrener Akteur*innen aus dem Feld Urbaner Praxis. […] Im Zuge der krisenhafte Entwicklung von Stadt müssen diese Expert*innen langfristig und nicht nur über punktuelle Projektförderungen in Veränderungsprozesse eingebunden werden.“ Becker beschreibt den Anspruch des Berliner Zusammenschlusses, in dem er aktiv ist, als einen globalen: „Die Initiative Urbane Praxis arbeitet an einem Kulturwandel in Berlin, um zu klären, in welcher Art Stadt wir künftig zusammenleben wollen.“

Becker benennt die aktuellen Problembereiche von Stadt und entsprechender kultureller Praxis stichwortartig: Mietenpolitik, Peripherien, soziale und rassistische Spaltungen, hohe Fluktuation von Stadtbewohner*innen, Zunahme von Diversität, unzureichend flexible Förderpolitiken, wachsende Regulationsdichte, Verfestigungen des Kunstmarkts und neuer Provinzialismus. Und er fragt: „Wie können diese Krisen antizipiert und abgewendet werden? Wie lässt sich eine Urbane Praxis in strukturelle und institutionelle Bahnen leiten und festigen, ohne dabei zu versteinern? Wie also lassen sich neue Formen des Zusammenlebens in der Stadt umsetzen, die auf die verborgenen Geschichten und Fragmente der Vergangenheit zurückgreifen, aktuelle Probleme ansprechen und sich an der Zukunft orientieren?“

Das vollständige Statement von Jochen Becker finden Sie hier.

Strukturen und Prozesse in Hannover

Die Frage nach stabilen Rahmensetzungen für eine post-disziplinäre Urbane Praxis ist auch Teil der Herausforderungen, denen sich Hannover stellen muss, wenn in der Landeshauptstadt eine zukunftsfähige Transformation der Innenstadt gelingen soll. Gerade die Balance zwischen Verstetigung und institutioneller Anbindung auf der einen und der Gefahr eines bürokratischen Erstarrens auf der anderen Seite ist entscheidend für zukünftige Strukturen: Wie lassen sich dauerhaft und kollektiv Handlungsspielraum, Relevanz, übergreifende Perspektiven, Diskursniveau und Freiheit/Flexibilität herstellen? Ein Zusammendenken von Kunst im öffentlichen Raum und Stadtentwicklung war bereits zentrales Thema des ersten digitalen Forums zum Innenstadtdialog der Landeshauptstadt Hannover mit Hilke Marit Berger: Wie lassen sich dezernatsübergreifend niedrigschwellige ästhetische Prozesse initiieren?

Dabei sollte der Blick auch im begrenzten Raum der Innenstadt nicht zuletzt auf weniger naheliegende Orte fallen: auf solche, die Interesse wecken und die Phantasie anregen können, gerade weil sie eher ungestaltet und defizitär sind. Häufig erzeugen gerade die nicht allzu öffentlichen Orte eine gesteigerte Wahrnehmung. Die prominenteren Orte wiederum leiden in der Innenstadt meist darunter, dass sie Teil von Konsumräumen sind, halböffentlich oder im Kern gar privatisiert, obwohl sie öffentlich erscheinen. Sie gilt es aufzubrechen und künstlerisch mit mehr Unterschiedlichkeiten anzureichern. Dabei ist es umso wichtiger, künstlerische Eingriffe sehr sorgfältig vor Instrumentalisierung und Kommerzialisierung zu schützen.

Virtueller Diskursraum (erweitert)

Auch die Frage nach einem Ineinandergreifen von Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft spielt in einer Stadt wie Hannover eine wesentliche Rolle, in der vor 50 Jahren mit dem Experiment Straßenkunst als erstem großen deutschen Programm für Kunst im öffentlichen Raum Maßstäbe gesetzt wurden. Erinnerung, kritische Analyse vergangener Strategien, Neukontextualisierung und das Implementieren zeitgenössischer Formate greifen hier idealerweise ineinander – zum Beispiel durch räumliche Bezugnahmen, thematische Updates oder temporäre Kommentare. Nicht zuletzt bringt Hannover aktuell drei Jahre Erfahrungen aus einer Kulturhauptstadtbewerbung mit, in der es darum ging, einen Status Quo diskursiv in die Zukunft zu denken.

Zahlreiche Texte, Thesen und Manifeste beschäftigen sich aktuell mit Leerstellen, Ergebnisoffenheit, Rhythmen und Performativität von Stadt, dem Unerwarteten, Unberechenbaren und Undenkbaren, mit Möglichkeitsräumen, Teilhabe, Kommunikation und Gemeinschaft. Kunst umgehen versucht immer wieder, ihre Urheber*innen einzuladen – wie jetzt mit den vier Statements zum Innenstadtdialog. Christopher Dell, der sich als Stadtforscher und preisgekrönter Vibraphonist mit Improvisationstechniken beschäftigt, war zum Beispiel im Jahr 2019 für eine Lecture Performance zu Gast. Markus Bader, Mitglied der Berliner Initiative Urbane Praxis und des Kollektivs raumlaborberlin, erkundete im Jahr 2015 mit uns das Expo-Ost-Gelände, sein Kollege Benjamin Foerster-Baldenius, der auch Mitglied des Künstlerischen Teams der Kulturhauptstadtbewerbung war, war vor einem Jahr zu Gast in einem digitalen Forum zu Stadt und Raum. Beide gewannen für ihre Installation Instances Of Urban Practice mit raumlaborberlin gerade einen Goldenen Löwen bei der Architekturbiennale in Venedig. (Auch an dieser Stelle nochmal: Glückwunsch!)

Wie wir leben wollen

Die oben bereits zum Thema der Übertragbarkeit von Projekten zitierte Künstlerin Barbara Holub erläuterte nicht nur vor einigen Wochen in einem Forum ihr gemeinsam mit dem Architekten/Urbanisten Paul Rajakovics formuliertes Konzept des Direkten Urbanismus und der Urban Practitioners. Sie zeigt auch mit transparadiso noch wenige Tage lang die Ergebnisse des Projektes NORMAL – Direkter Urbanismus x 4 im Grazer Forum Stadtpark – als Beitrag zum verlängerten Graz Kulturjahr 2020, das 17 Jahre nach dem Kulturhauptstadtjahr der Stadt unter dem Motto Wie wir leben wollen gezielt Künstler*innen eingeladen hat, sich mit Stadtentwicklung zu beschäftigen. transparadiso nimmt das gleichberechtigte Wechselspiel zwischen künstlerischen Eingriffen und planerischen Prozessen, zwischen Praxis und Theoriebildung seit über 20 Jahren ausgesprochen ernst. Vielleicht wird aus den virtuellen Begegnungen in diesem Beitrag irgendwann eine Präsenz-Tagung in Hannover: mit Heike Mutter und Ulrich Genth, Rose Pfister, Heinz Schütz, Jochen Becker, Hilke Marit Berger, Barbara Holub, Christopher Dell, Markus Bader, Benjamin Foerster-Baldenius und Thomas Renz.

[Heike Mutter und Ulrich Genth: Tiger & Turtle – Magic Mountain, Duisburg 2011 (Foto: DerMische, CC BY-SA 4.0)]

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