3. Oktober 2021 – Kurzbetrachtung: Mit der flachen Hand auf dem Pflaster
So. 03.10. | ab 12.00 (bleibt digital verfügbar)
Kunst umgehen: Kurzbetrachtung
von Thomas Kaestle
Die Kurzbetrachtungen sind ein neues Format bei Kunst umgehen: Jeweils ein Mitglied des Vermittlungsteams lässt Sie teilhaben an Ideen, Assoziationen, Neuigkeiten und Meinungen zu Kunst in öffentlichen Räumen. Hier ist öffentlicher Raum für individuelle Perspektiven nicht nur auf einzelne Objekte oder Projekte in Hannover und der Welt, sondern auch auf Bezüge, Potentiale oder Defizite.

Mit der flachen Hand auf dem Pflaster
Katrin Bretschneiders ortsspezifische Inszenierung Shaking Hands With Ghosts auf dem ehemaligen Gelände der AG Weser in Bremen
von Thomas Kaestle
Von einer der größten Werften Europas im Bremer Stadtteil Gröpelingen, der AG Weser, ist fast nichts Materielles geblieben: Am ehemaligen Standort befindet sich heute ein überdimensionales Einkaufszentrum mit dem klangvoll-beliebigen Namen Waterfront – und davor eine ähnlich überdimensionale, gepflasterte Freifläche, die bis zum Wasser reicht. In Sichtweite des Hafenbeckens, in dem einst der Stapellauf riesiger Schiffe endete, fließt die Weser auf ihrem Weg zur Nordsee vorbei. Leben findet auf diesem Platz kaum statt. Dabei (und dadurch) scheint er wie gemacht für große Inszenierungen.
Zwischen Leere und Spektakel
In den Köpfen und Herzen der Bremer*innen ist die AG Weser hingegen bis heute ausgesprochen lebendig. Etwa 8.000 Menschen arbeiteten in der 1983 nach langen Rettungs- und Vermittlungsversuchen und anschließenden Arbeitskämpfen für immer geschlossenen Werft. Diese Arbeit prägte Familien und einen ganzen Stadtteil, stiftete Gemeinschaft und Identität. Die freie Theatermacherin Katrin Bretschneider formuliert selbst einen sehr persönlichen Bezug: „Meine Eltern haben sich auf der AG Weser kennengelernt und ohne die Werft gäbe es mich nicht.“ Dass sie sich mit einer ortsspezifischen Inszenierung an deren Geschichte wagt, ist umso mutiger.
Ihr Projekt Shaking Hands With Ghosts, das sie vor zwei Wochen zeigte, ist eine kluge Mischung aus partizipativem Audiowalk, Minimalperformance, Raumerkundung und -aktivierung, Reenactment, autobiografischem Ritual, Vergangenheitsbewältigung, Gegenwartsbefragung und Zukunftsvision. Bretschneider verweigert das große Spektakel, das die ausufernden Dimensionen von Raum und Thema nahelegen. Sie verweigert auch eine reine Spurensuche an einem Ort, an dem es kaum noch sichtbare Spuren gibt. Sie ergibt sich nicht der Soziokultur, obwohl sie ausgiebig mit Zeitzeug*innen spricht und deren Perspektiven prominent einbindet.
Die Kraft des Immateriellen
Vielmehr begegnet sie der monumentalen Leere mit der Kraft des Immateriellen und konzentriert sich dabei auf die Stärken der freien künstlerischen Szene, die sie vertritt. Shaking Hands With Ghosts ist kein Projekt einer großen Kulturinstitution, die sich eine Personal- und Materialschlacht erlauben könnte, um Freiflächen wie die zwischen Waterfront und Wasser zu bespielen. Bretschneider setzt auf kleine ästhetische Eingriffe, die große Imaginationskraft ihres Publikums und die Macht der Suggestion durch selbst eingesprochene, sehr persönliche Überlegungen zu den Zusammenhängen, die eine Betrachtung der AG Weser fast 40 Jahre nach deren Schließung jenseits von Geschichtsschreibung und Sentimentalität eröffnen.
Es geht ihr unter anderem um Konzepte von Arbeit und Leistung, um Solidarität und Flexibilität, um Unausweichlichkeit und Reflexion, um Aura und Neukalibrierung. Bretschneider definiert ihr mit Funkkopfhörern ausgestattetes Publikum schnell als Gruppe und lässt es durch kleine Choreografien die Dimensionen des Ortes erkunden und dabei zusammenwachsen. Ihre Handlungsanweisungen beschränken sich weitgehend auf Bewegungsabläufe – und doch wird schnell deutlich, was mit einer gemeinsamen Leistung gemeint ist, welche Synergien und Erwartungen dabei entstehen können. Als die Stimme in den Kopfhörern eine Reihe von Fragen zu sozialer Einordnung und Perspektiven auf Arbeit stellt, heben viele unaufgefordert bekennend die Hand, wenn sie sich jeweils zugehörig fühlen.
Der Wert der Arbeit als historisches Konzept?
Bretschneider eröffnet ihre Reflexionen über der Wert der Arbeit und die tiefe Verwurzelung von Klassendenken mit ihrer ganz persönlichen Geschichte als Werftarbeiterkind, mit anerzogener Bedeutung von Leistung und Erschöpfung. Und mit früh erlernten Abgrenzungen: „Diejenigen, die mehr als 50 Bücher besitzen, das sind die anderen.“ Obwohl sie jetzt zu den anderen gehöre, bleibe sie anders: „Ich bin diejenige die immer versuchen wird, eine unsichtbare Lücke durch Anstrengung zu schließen.“ Sie lässt den Geistern der Vergangenheit genug Raum in ihrer Inszenierung, den wehmütigen Erzählungen von der guten, sinnstiftenden Arbeit, von Stolz und Identität.
Aber sie verschweigt nicht jene Aspekte, über die nur selten gesprochen wird: Arbeiter, die zu müde für Dinge sind, die ihnen Freude machen, zu müde, um ihre Perspektive zu wechseln und aus Wertesystemen auszubrechen. Schließlich bleibt der Blick ins Heute und Morgen: Kann oder muss Arbeit glücklich machen? Welche Art von Arbeit zählt denn als vollwertig und „echt“? Das Publikum erfährt, dass heute etwa 1.500 Menschen im Einkaufszentrum Waterfront arbeiten, fast ausschließlich in Dienstleistungsberufen: „Wer bekommt genug Anerkennung, wer identifiziert sich mit seiner Arbeit?“ Dem Mythos Arbeit scheint längst sein Glanz abhanden gekommen zu sein. Was bleibt? Womit lässt sich die Leere füllen?
Ein später Moment des Innehaltens
Die Gelegenheit, während der Inszenierung einen Schritt zurückzutreten, ist günstig – Platz genug ist vorhanden. Die Stadtgesellschaft Bremens habe den Moment des Innehaltens nie gefunden, so Bretschneider – nach dem Ende der Werft habe man schnell große Visionen für den Standort entwickelt, die wenig mit der Vergangenheit zu tun hatten: Ein Space Park sollte ihn als erster überdachter Freizeitpark Deutschlands neu definieren. Nach nur einem halben Jahr wurde er wegen mangelnder Besuchszahlen wieder geschlossen. Seine Räume lassen das Einkaufszentrum Waterfront aber bis heute ein wenig futuristisch wirken. „Heute haben wir das Privileg, Arbeit neu zu denken“, sagt Bretschneider – und meint wohl nicht nur die 90 Minuten ihrer Inszenierung.
Sie schafft es mit Shaking Hands With Ghosts, Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft eines für Bremen einst so bedeutenden Ortes wohl näher zueinander zu denken denn je. Sie vermittelt ihrem Publikum das Gefühl, sich auf einem augenscheinlich neutralen Platz durch die Geschichte zu bewegen, Gedankenarchäologie und leise Wunschproduktion zu vereinen. Sie lässt den historischen Trauermarsch von 1983 für die AG Weser nachspielen, projiziert an die Rückseite eines Kinosaals Dokumente aus der Zeit des Arbeitskampfs und fordert das Publikum auf, dem Puls des Ortes mit der flachen Hand auf dem Pflaster nachzuspüren. Und doch beladen am Ende alle gemeinsam ein imaginiertes Schiff mit Visionen für die kommenden 40 Jahre und lassen es gedanklich zu Wasser
Nicht im Archiv verschwinden lassen
Ich will an dieser Stelle keinesfalls verschweigen, dass ich nicht neutral über das Projekt Shaking Hands With Ghosts schreiben kann: Ich bin Mitglied der Theaterjury des Bremer Kultursenators und habe es gemeinsam mit meinen Kolleginnen zur Förderung empfohlen. Leider ist im Vorfeld eine interdisziplinäre Verschränkung mit anderen Referaten und Senator*innen nicht gelungen, zum Beispiel mit dem Referat für Kunst im öffentlichen Raum oder der Wirtschaftsförderung. Ich freue mich aber, dass die Senatorin für Wirtschaft, Arbeit und Europa die Schirmherrschaft übernommen hat.
Katrin Bretschneider hat es mit Hilfe der freien Bremer Spiel- und Produktionsstätte Schwankhalle als Veranstalterin und einer wesentlichen zusätzlichen Förderung durch den Fonds Darstellende Künste im Rahmen des Programms NEUSTART KULTUR geschafft, ihr Projekt an acht Terminen etwa 500 Besucher*innen zu zeigen. Ich halte es für unerlässlich, dass es jetzt nicht in einem Archiv verschwindet, sondern durch eine Wiederaufnahme einem breiteren Publikum zugänglich wird. Die hervorragende Aufbereitung des Themas Arbeit und ihre Verknüpfung mit lokalen Mentalitäten ist prädestiniert für Gruppen aus dem Stadtteil oder aus Schulen – und zwar gerade, weil es sich nicht um ein soziokulturelles Projekt handelt. Weil es sich vielmehr um eine freie künstlerische Perspektive handelt, die zu anderen Dramaturgien und Erzählweisen fähig ist, anders verdichten und konfrontieren kann.
Mehr davon!
Es ist nicht selbstverständlich für Bremens freie Szene, in solchen Dimensionen zu arbeiten und dabei neue Formate und Zusammenhänge zu erkunden, auch weil die Förderbudgets in diesem Bundesland nicht üppig sind und es viel Mühe und Durchhaltevermögen braucht, ein solches Vorhaben zu finanzieren. Umso wichtiger sind Projekte, die jenseits institutioneller Ansprüche eindrücklich zeigen, wie Kunst und Kultur den Wandel von Orten zu begleiten und zu kommentieren in der Lage sind – und dazu beitragen können, alte Perspektiven auf Stadt und Gesellschaft aufzubrechen und neue zu entwickeln.
Wir brauchen mehr solcher Projekte, gleichgültig ob wir sie Inszenierung und Theater nennen oder Performance und Kunst im öffentlichen Raum: freie künstlerische Perspektiven, die sich Orte aneignen, sie narrativ aufbereiten und mit Alltags- und Zukunftsfragen verknüpfen. Nichts gegen fiktive Ortsbespielungen und die Lust, gemeinsam wilde Geschichten zu erleben oder zu erfinden. Aber hier wird die Kunst zum Teil eines städtischen Prozesses, zu einem Stück Bewusstmachung, wo zu viel zu lange verdrängt wurde. Als Kunst vermag sie, zugleich zu konfrontieren und zu heilen, unbequeme und versöhnliche Fragen zu stellen – und so Lebensrealitäten in einen verbindenden Dialog zu bringen.