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17. Oktober 2021 – Kurzbetrachtung: Was versetzt uns heute noch in Staunen?

So. 17.10. | ab 12.00 (bleibt digital verfügbar)
Kunst umgehen: Kurzbetrachtung
von Anna Grunemann

Die Kurzbetrachtungen sind ein neues Format bei Kunst umgehen: Jeweils ein Mitglied des Vermittlungsteams lässt Sie teilhaben an Ideen, Assoziationen, Neuigkeiten und Meinungen zu Kunst in öffentlichen Räumen. Hier ist öffentlicher Raum für individuelle Perspektiven nicht nur auf einzelne Objekte oder Projekte in Hannover und der Welt, sondern auch auf Bezüge, Potentiale oder Defizite.

Was versetzt uns heute noch in Staunen?

von Anna Grunemann

Heute Morgen hörte ich im Radio ein Gespräch mit einem Soziologen, der an dieser Stelle leider namenlos bleiben muss. Es ging um Weltraumtourismus und es wurde das Bild einer interplanetaren Gesellschaft entworfen, in der die Menschheit in absehbarer Zukunft nicht mehr ausschließlich auf der Erde leben, sondern die benachbarten Planeten mit benutzen würde. Elon Musk zieht aus der Begrenztheit der Erde und ihrer Ressourcen den Schluss, sich heute schon für das Expandieren der Menschheit vorzubereiten.
Heute gibt es bereits 14 Anbieter für Weltraumflüge und -transporte.
Zu den 5.700 aktiven Satelliten, die die Erde umkreisen, kommen weitere annähernd 12.000 ausgediente, die als Weltraumschrott den Planten umkreisen. Über DHL kann man für 400 bis 1.000 Dollar ein ziemlich kleines Päckchen bestellen, welches dann von Astrobotics zum Mond gebracht wird. Die ersten Päckchen wurden bereits verschickt – neben persönlichen Dingen wie Speicherkarten auch mit einem Kunstwerk darin.
Sollte die Kunst tatsächlich diesen Quantensprung schaffen – oder ist auch das Versenden von Kunst zu diesen Konditionen ebenfalls nichts mehr als die Selbstvergewisserung ihrer Absender*innen?

Tourismus im All

Da ist von aufblasbaren oder fest im Weltraum installierten Hotels die Rede und gerade wurde Filmmaterial für einen Spielfilm im All gedreht. Elf Jahre nachdem der erste Weltraumtourist 2001 für eine enorme Summe für Stunden ins Orbit katapultiert wurde, wird 2022 eine erste Reisegruppe für acht Tage Urlaub auf der ISS machen.
55 Millionen Dollar kostet der Transfer pro Person. Der Bauunternehmer Larry Connor bereitet sich seit Monaten auf dieses Unternehmen vor und eingangs erwähnter Soziologe schwärmt, die Soundpieces aus den Cockpits der Raketen werden nicht länger unterkühltes technisches Palaver sein, sondern wir lauschen den verzückten „Boah-wie-geil“-Rufen derer, die es eben können.

Verstehen Sie mich nicht falsch – ich bin kein bisschen neidisch, auch wenn ich es eben nicht kann. Auch wenn die Vision der Macher darin besteht, die Passage in absehbarer Zukunft für Preise anzubieten, die vergleichbar sind mit denen von Kreuzfahrten.
Vielmehr geht mir durch den Kopf, welchen Sinn ein derartiger Urlaub haben sollte, außer sich auf die Liste der Exklusiven zu setzen.

Der ultimative Kick …

… besteht wohl darin, sich unter Einsatz des eigenen Lebens (und einem mehr oder weniger beträchtlichen Teil des wie auch immer erworbenen Geldes) in eine einmalige Erfahrung zu katapultieren, die nur abzählbar Viele teilen. Sicher wird dieser Urlaub auch berührende oder verzückende Momente beinhalten – aber wird der Aufenthalt im All diese Tourist*innen auch in Staunen versetzen?

An die eigenen Grenzen kommen

Der Ursprung des Reisens lag in der Neugierde. Der Entdeckergeist mutiger Männer von Marco Polo über Alexander dem Großen bis zu Roald Amundsen und vielen mehr, auch Frauen wären hier noch zu nennen, trieb diese Menschen an und auch sie wagten Ihr Leben, um in bislang nicht erforschte Gebiete der Welt vorzudringen. Sie nahmen all diese Strapazen auf sich, um ihrem König oder ihrer eigenen Idee zu dienen und betraten staunend Neuland. Aristoteles sieht im Staunen den Ursprung der Philosophie und erkennt ihre subversive Kraft darin, aus diesem Staunen heraus zu reflektieren und es als kritischen Impuls zu begreifen.

Das Staunen betrachten

Die Literaturwissenschaftlerin Nicola Gess beschreibt das Staunen als nachhaltige Irritation, die Dinge in uns hinterlassen, die nicht ohne Weiteres in das eigene Weltbild integriert werden können. Verbunden mit dieser Irritation ist oft ein Innehalten, zuweilen auch ein Begreifenwollen. Kultiviertes Staunen nennt es Gess, wenn dem Erregungszustand auch die Analyse folgt, die neu gesehenen Dinge mit dem eigenen Weltbild zu verkoppeln. Dieser Moment der Grenzerfahrung und Grenzziehung, die gewahr werden lässt, dass wir verletzlich und begrenzt sind, liegt im Staunen eingebettet und ist vielleicht mitunter lediglich nonverbaler Ausdruck unserer Berührbarkeit. (siehe: Nicola Gess, Staunen – eine Poetik; Reihe: Kleine Schriften zur literarischen Ästhetik und Hermeneutik, Bd. 11; 2019, Göttingen (Wallstein Verlag))

Grenzen auszutesten, sie abzutasten, an die Ränder der Erkenntnis vorzudringen, ist von jeher auch Aufgabe der Kunst. Künstler*innen betrachten die Welt und ihre selbst gewählten Ausschnitte davon und fassen ihre Sicht zusammen in Bildern, die zuweilen irritieren, verstören, erhellen, verzücken oder uns zum Staunen bringen.
Dieses Staunen lässt uns teilhaben an deren Erkenntnissuche, die sie mitunter an die Ränder bringt, von denen man im Alltag gar nicht weiß, dass es sie gibt. Dieses Teilhaben inspiriert und bringt uns als Betrachter*innen dazu, unsere eigenen Grenzen zu befragen.

Staunen im Internet

Im Internet habe ich nach Bildern zum Staunen gesucht. Der zum „Oh“ geöffnete Mund ist mit dem Staunen eng verbunden. Die Psychologie spricht von der überwältigten Sprachlosigkeit, die durch diesen Laut manifest wird. Interpretieren könnte man den geöffneten Mund auch als Schleuse, die neben den Augen die Umgebung/Welt aufnimmt. Interessant ist aber bei diesen Bildern vor allem, dass die zum Staunen mit Ausnahme der Bilder von einigen Kindern alle unglaubwürdig sind. Sie sehen aus wie aus einem Prospekt. Ist es also so, dass das Staunen zu unserem kulturellen Code gehört und wir echtes von falschem Staunen unterscheiden können?

Auffällig in dieser Bildersammlung ist auch, wie häufig diese Bilder mit digitalen Endgeräten verkoppelt sind. Nicht ein Bild zeigt eine in Anbetracht von Kunst staunende Person. Dies spiegelt dann wohl doch die ökonomische Zielrichtung der verlinkten Internetplattform wieder und erstaunt mich eigentlich gar nicht.

Staunen und Erinnerung

Ich erinnere mich noch gut an eine Arbeit des portugiesischen Künstlerduos Gusmão und Paiva im Kunstverein Hannover [*]. Die Ausstellung About the Presence of Things fand im Jahr 2009 statt. Eine an einem von der Decke hängenden Faden befestigte Kartoffel umkreiste im sonst dunklen Raum einen Globus(?) und wurde von einem Spot beleuchtet, so dass dieser wie ein Mond nur halb zu sehen war und im Schattenbild das Umkreisen zweier (Himmels-)Körper assoziiert werden konnte. Die Einfachheit, mit der das Künstlerkollektiv seine Assoziationsebenen aufspannte, war faszinierend und versetzte mich in ein Erstaunen, das bis heute in meiner Erinnerung widerhallt.
Ähnlich erinnere ich mich an die Betrachtung eines Gemäldes von Rembrandt in Lissabon. Ich bin kein enthusiastischer Fan alter Meister, aber die kühne Schnodderigkeit mit der die rechte untere Ecke von Rembrandt gemalt wurde, versetzte mich doch in Erstaunen – lag vor mir doch ein Indiz dafür, dass mein Vorurteil den Rembrandt und Seinesgleichen gegenüber, sie als langweilige, fremdgesteuerte Meister ihres Handwerks zu bewerten, zumindest auf den Prüfstand gehörte.
Auch staune ich heute zuweilen über die Genügsamkeit von Tieren, die nichts wesentlicher zu finden scheinen, als sich bei Wind und Wetter das Gras schmecken zu lassen. Dieses Staunen zählt aber wohl eher in die Kategorie des grundsätzlichen Staunens über die Welt in ihrem so enorm vielschichtigen Dasein und diese Bilder werde ich wohl kaum mehr als zehn Jahre später erinnern.

Staunen heute

Beim Nachdenken über den Radiobeitrag heute Morgen (Samstag, 16. Oktober 2021 bei Deutschlandfunk Kultur) erstaunt mich eher, dass Menschen, die die finanziellen Mittel hätten, die jetzigen Probleme der Welt anzugehen, sich lieber auf neue Horizonte ausrichten und diese Welt hinter sich lassen, wenn zunächst auch nur für einen erregenden Urlaubstrip. Die Grenzerfahrung als Erregungsmoment zu installieren, scheint in der modernen Eventgesellschaft fast schon alltäglich. So bleibt wohl nur noch die Grenzüberschreitung ins Weltall, um sich abzugrenzen und damit eine gewisse Exklusivität zu wahren.

Man kommt über diese Menschheit aus dem Staunen nicht heraus!


[* “Das portugiesische Künstlerduo João Maria Gusmão (* 1979, Lissabon) und Pedro Paiva (* 1977, Lissabon, beide leben und arbeiten in Lissabon, Portugal) hat in den vergangenen 15 Jahren ein magisches und geheimnisvolles Werk entwickelt, das Filme, Fotografien, Skulpturen und Camera-Obscura-Installationen umfasst. Auf 16-mm-Celluloid-Film aufgenommen, zeigen ihre Arbeiten physikalische Experimente, Abläufe der Natur und Episoden des Alltags, mit denen sich zumeist poetisch-philosophische, nicht selten auch übersinnliche Momente verbinden: eine endlos rotierende Wassermühle („Water Mill“, 2012), ein Truthahn, der vor einem Landschaftsbild steht und Körner pickt („Cassowary“, 2010). In „Fried Egg“ (2008), einem ihrer bekanntesten Filme, sieht man, wie ein Spiegelei gegart wird, und dem lebenden Fisch, der in „Cowfish“ (2011) auf dem Teller liegt, nach Luft schnappt und mit den Flossen schlägt, scheint jeden Moment das Unmögliche zu gelingen: abzuheben und davonzufliegen. Die dargestellten Szenarien hinterfragen unser Sehvermögen und bleiben letztlich Mysterien, die an unsere Fantasie und unsere Fähigkeit zu träumen appellieren.“ (aus einem Ausstellungstext des Haus der Kunst München, 2015)]

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