31. Oktober 2021 – Rückblick: Alles so schön bunt hier? Kunst braucht kritischen Diskurs!
So. 31.10. | ab 12.00 (bleibt digital verfügbar)
Kunst umgehen: Rückblick
von Thomas Kaestle
Zum Abschluss des Jahresprogramms ist es an der Zeit, zusammenzufassen, zu erinnern, rote Fäden aufzugreifen und zu verknüpfen: Was müssen wir uns bis zum nächsten Jahr merken? Worüber werden wir weiterhin reden müssen?

Alles so schön bunt hier? Kunst braucht kritischen Diskurs!
von Thomas Kaestle
Sommer/Winter, analog/digital und digitales Flanieren
Dass Kunst umgehen als Vermittlungsprogramm für Kunst in öffentlichen Räumen seit vielen Jahren in den Sommermonaten stattfindet, hat ursprünglich vor allem mit dem Wetter zu tun: Niemand möchte so richtig gerne bei einem Künstler*innengespräch vor Ort, neben der Kunst, auf Plastikklappstühlen sitzend frieren. Seit dem vergangenen Jahr ist Kunst umgehen nun weitgehend in den digitalen Raum umgezogen – der ja einerseits nicht weniger öffentlich ist als städtische Räume, andererseits auch nicht unbedingt öffentlicher. Er unterliegt eben anderen Zugangsbeschränkungen. Über den Ausbau der Digitalisierung sowie den Zugang zu Endgeräten, Infrastrukturen, Bedienungswissen und Medienkompetenz wurde während der Pandemie regelmäßig diskutiert. Eines hat der digitale dem analogen öffentlichen Raum allerdings voraus: Beim Flanieren wird es im Herbst und Winter nicht ganz so ungemütlich – halbwegs bezahlbare Energiepreise vorausgesetzt.
Dennoch pausiert Kunst umgehen sein Programm wie gewohnt zwischen November und April. Das hat allerdings eher mit Budgets zu tun. Und damit, dass die drei Mitglieder des Vermittlungsteams, alle zumindest teilweise Freiberufler*innen, irgendwann auch mal mehr Zeit für andere Projekte benötigen. Gut an unseren digitalen Veranstaltungen und Veröffentlichungen des heute ablaufenden Jahresprogramms 2021 ist: Es bleibt verfügbar. Hinter diesem Link finden Sie einen Überblick zu unserem Archiv – übrigens auch zu dem des Jahres 2020, wenn Sie nur weit genug nach unten scrollen. Machen Sie es sich also auf dem Sofa oder am Schreibtisch mit einem Heiß- oder Kaltgetränk Ihrer Wahl gemütlich – und flanieren Sie!
Kurzbetrachtungen, Sculpture Transfers, Überblicke und Foren
Was können Sie dabei entdecken? Womit haben wir uns in den vergangenen sechs Monaten beschäftigt?
Im neuen Format Kurzbetrachtung schrieben die drei Mitglieder des Teams abwechselnd frei, assoziativ oder aktuell über Themen wie Joseph Beuys, Ferdinand von Schirach und die Ich-Wir-Schere; temporäre, unsichtbare und in die Jahre gekommene Kunst; Performance und den Umgang mit Raum und Dingen; Gärten, Kunst und Kreisverkehre; Erinnerung, Geschichte und Archive; Landmarken, Leuchttürme und Kollektive; Interventionen und Installationen im ländlichen öffentlichen Raum; Hören, Gehen und gescheiterte Interventionen; Denkmale, Diskurse und künstlerische Gedenkstrategien; performative Eingriffe in innerstädtische Räume; Klimawandel, CO2-Abdrücke und Kunst; inszenierte Perspektiven auf Arbeit an einem historischen Ort oder Weltraumflüge, Grenzen und Staunen.
Bei zwei analog-digitalen Sculpture Transfers setzten sich Anna Grunemann und Christiane Oppermann performativ mit Otto Almstadts Skulptur Kontakte und einer Wandtafel ohne Titel von Günter Kämpfe sowie mit Eugène Dodeignes Ensemble Die Große Familie auseinander. Drei Überblicksführungen setzten ganz individuelle Schwerpunkte bei der Kunstbetrachtung: Bei Kunst und Meinung diskutierte das Team über Lieblingskunst, für Kunst und Wein schlugen drei Weinhändler*innen Weine für ein Art Pairing vor und Kunst und Peripherie führt heraus aus der Innenstadt zu oft weniger bekannter Kunst in den Stadtbezirken. In einem Forum mit dem Klangkünstler und Komponisten Georg Klein sprachen wir über dessen Installation in Burgdorf im Rahmen des Festivals Intraregionale. Und in einem Forum mit dem Sozial- und Politikwissenschaftler Henning Mohr sprachen wir über dessen Dissertationsthema Kunst der Innovationsgesellschaft und dessen Perspektiven auf eine anstehende Transformation der Kulturpolitk als Leiter des Kulturpolitischen Instituts der Kulturpolitischen Gesellschaft.
Schwerpunkt Stadtentwicklung
Stadtentwicklung ist schon seit Jahren einer der Kontexte, den Kunst umgehen zur Diskussion über Kunst in öffentlichen Räumen mit einbezieht. In meinem Ausblick zum Beginn dieses Jahresprogramms ging ich darauf ein, warum ich ihn aktuell für besonders wesentlich halte: „Dass sich Expert*innen vieler verschiedener Disziplinen aktuell Gedanken über die Rettung von Innenstädten machen, ist hingegen gut und richtig. Deren Aufenthalts- und Erlebnisqualitäten waren oft schon vor der Pandemie steigerungsfähig. Jetzt ist ein guter Zeitpunkt, festgefahrene Perspektiven zu überdenken.“ Und weiter: „Die Kunst könnte hier Wesentliches leisten: Künstler*innen sind geschulte Expert*innen dafür, Kontexte kritisch zu durchleuchten, neuralgische Punkte aufzuspüren und diese mit einfachen Eingriffen sichtbar zu machen. Künstler*innen können in der Regel keine Probleme lösen, zumindest sollten sie dafür nicht instrumentalisiert werden. Sie können aber Probleme zutage treten lassen. Sie sind nicht für Antworten zuständig – aber dafür, die richtigen Fragen zu stellen. Jetzt müsste also die Stunde der Kunst in öffentlichen Räumen schlagen. Es bleibt zu hoffen, dass sie den Verantwortlichen nicht erst einfällt, wenn es darum geht, am Ende etwas zu dekorieren, aufzuhübschen oder wenigstens schön bunt zu machen.“
Unter anderem die Teilnahme von Kunst umgehen am Innenstadtdialog der Landeshauptstadt Hannover ermöglichte es, in diesem Jahr gleich vier Foren anzubieten, die sich unter anderem mit dem Thema Stadtentwicklung beschäftigten. Im Forum mit Hilke Marit Berger von der Hafen City Universität Hamburg unterhielten wir uns über ihre Dissertation Handlung statt Verhandlung. Kunst als gemeinsame Stadtgestaltung. Im Forum mit der Wiener Künstlerin Barbara Holub ging es um ihre Projekte mit dem Kollektiv transparadiso, in denen sie die Strategie des Direkten Urbanismus praktiziert, aber zum Beispiel auch um ihr Projekt WE PARAPOM! für die Europäische Kulturhauptstadt 2025 Chemnitz. Im Forum mit dem Kunstwissenschaftler Florian Matzner von der Akademie der Bildenden Künste München sprachen wir über dessen Großprojekte als Kurator für Kunst im öffentlichen Raum unter anderem in Münster, Bremen, dem Ruhrgebiet und Chemnitz, aber auch über deren Verschränkung mit Aspekten wie dem Strukturwandel. Und für ein Forum für den Innenstadtdialog baten wir vier Expert*innen aus anderen Städten um Statements: Jochen Becker aus Berlin, Rose Pfister aus Bremen, Heike Mutter und Ulrich Genth aus Hamburg sowie Heinz Schütz aus München.
Außerdem thematisierten auch zwei Kurzbetrachtungen Verschränkungen zwischen Kunst und Stadtentwicklung – eine berichtete von einer Konferenz der Berliner Initiative Urbane Praxis, eine andere fasste zum Abschluss des zweiten Innenstadtdialogs aktuelle Diskurse und Herausforderungen zusammen.
Nicht aus den Augen verlieren!
Gerade die Fragestellungen aus den Diskursen um Kunst und Stadtentwicklung sollten und werden uns weiter beschäftigen. Die folgenden offenen Fragen zur Wiedervorlage sind eine Auswahl aus der Kurzbetrachtung Terrain abstecken:
Was kann Kunst im Stadtraum? Was soll sie? Welche Kunst braucht die Innenstadt? Was kann Kunst zu Stadtentwicklungsprozessen beitragen? Kann sie die besseren Fragen stellen? Soll sie konfrontieren oder integrieren? Wie viel Vertrautes brauchen innerstädtische Orte, um Aufenthaltsqualität und Wohlfühlzonen herzustellen? Und wie viel Herausforderung brauchen sie, Elemente die neugierig machen, Geheimnisse bereithalten, Menschen und Dinge in Bewegung versetzen? Wie wertvoll ist die Erinnerung an etwas, das nicht mehr da ist, für die Wahrnehmung eines innerstädtischen Raums? Wann verliert Kunst ihre Lesbarkeit? Welche Lesehilfen kann es geben?
Muss Kunst im Stadtraum immer eine Art von Objekt oder Installation sein? Welche Rolle spielt ihre Materialität? Kann eine Arbeit dezentral sein, sich auf einen Stadtraum verteilen? Kann Kunst aus Kommunikation bestehen? Aus Ideen, Konzepten, Träumen oder Gerüchten? Kann sie sich in Köpfen manifestieren und so mobil werden? Wie wichtig sind soziale Prozesse für eine Kunst im öffentlichen Raum geworden – als Material oder Ergebnis? Darf Kunst das Bestehende bestätigen, indem sie nur illustriert, kommentiert oder dekoriert? Darf sie gefällig sein? Beliebt? Darf Kunst gemocht werden? Muss sie nicht sogar gemocht werden, um einen niedrigschwelligen Zugang zu ermöglichen? Oder soll sie sperrig sein, um die Ecke denken, auf Leerstellen und Missstände hinweisen? Soll sie den Finger in Wunden legen und zum Nachdenken anregen, zum kritischen Diskurs? Wie schön darf Kunst sein? Wie bunt?
Darf Kunst von außen gesetzten Zwecken folgen? Ist beauftragte Kunst noch frei? Welchen Kriterien folgt diese Freiheit? Wie viel darf ein Auftrag vorgeben oder voraussetzen? Wann werden Künstler*innen zu Kunsthandwerker*innen oder Designer*innen? Darf Kunst Sozialarbeit sein? Wem darf sie nutzen? Wie lässt sich für Kultur mehr und neues Publikum erreichen: durch eine Vermittlung des Abstrakten in der Kunst oder durch eine Integration des Populären in die Kunst?
Michelangelos Tiger und vonovias schwindelnde Höhen
Auf die eine oder andere all dieser Fragen versuchten sich zwei hannoversche Kunstprojekte in den vergangenen Wochen bereits an Antworten. Das Urban-Art-Festival Hola Utopia lud Ende August Künstler*innen ein, Fassaden zu gestalten. Vorab war mit Anwohner*innen in Workshops über die Inhalte möglicher Motive gesprochen worden. Das scheint heute bereits auszureichen, um als „sozial und ökologisch motiviertes Street Art Festival“ erhebliche Fördergelder von Kommune, Land und Bund zu erhalten. Dass es sich bei den bemalten Hauswänden zumeist um welche handelte, die einschlägigen Immobilienkonzernen gehören, war den beiden Festivalorganisatoren – die selbst mit der kommerziellen Gestaltung von Fassaden zu den Auftragnehmern solcher Konzerne gehören – selbstverständlich bewusst. Die Förderer wiederum schien Hola Utopias Beitrag zu Gentrifizierung und Art Washing nicht weiter zu interessieren. Dass es sich bei fast allen künstlerischen Beiträgen um affirmatives, gefälliges Design – und damit eher um Kunsthandwerk – handelte, fiel zumindest einer breiten Öffentlichkeit kaum auf. Dass die Wandbilder bunt, großformatig und niedrigschwellig waren, genügte auch der Hannoverschen Allgemeinen Zeitung, um über sie unkritisch als Kunst zu berichten – im Lokalteil, nicht auf den Kulturseiten. Der Autor war sich nicht einmal zu schade, einen der Akteure mit Michelangelo und sein kitschiges Tigermotiv mit der Sixtinischen Kapelle zu vergleichen.
Da tröstet es zumindest ein wenig, dass das Berliner Kollektiv Cuadro Frezca die Feigenblätter und Nebelkerzen des Festivals durchschaute und beschloss, sich nicht instrumentalisieren zu lassen und ein kritisches Motiv umzusetzen, das von den eingereichten Entwürfen abwich. Seine Arbeit, die als einzige im Festival genug konzeptuelle Eigenständigkeit entwickelt, um sich über beauftragte Dekoration zu erheben und zwischen anderen als Kunst herauszustechen, setzt sich kritisch mit dem Immobilienkonzern vonovia auseinander – also dem Eigentümer der gestalteten Wand eines Mietshauses in Roderbruch. Der Gebirskamm eines Alpenidylls entpuppt sich als steil steigender Börsenkurs des Unternehmens – und das rechte Drittel des Motivs bleibt frei, entsprechend dem Drittel jedes Euros Miete, den vonovia nicht in seine Häuser investiert, sondern an Aktionär*innen als Gewinn ausschüttet. Zum Glück konnte eine Intervention des Kulturdezernats der Landeshauptstadt Hannover zunächst verhindern, dass Cuadro Frezcas Intervention übermalt oder verändert wurde – dass die Kuratoren des Festivals sich nicht hinter ihre kritischen Künstler stellten, spricht hingegen Bände.

Haus des Geldes
Etwa zeitgleich mit der Intervention von Cuadro Frezca im Rahmen des Festivals Hola Utopia entstand an einer prominent einsehbaren Hausfläche am Schwarzen Bär ein großformatiges Wandbild, das problemlos im Zusammenhang mit dem Art Washing gelesen werden konnte, das die Künstler aus Berlin mit ihrer Arbeit in Roderbruch thematisierten. Tatsächlich handelte es sich in Linden jedoch um Werbung des Streamingdienstes Netflix für die Serie Haus des Geldes – es zeigte einen der Hauptcharaktere. Angeblich wurde die Fassade von einer Agentur angemietet und soll wechselnde Motive zeigen. Inzwischen wurde das erste bereits wieder entfernt. Interessant an diesem Motiv ist, dass es von den meisten Kommentator*innen in den Sozialen Medien nicht von den Street-Art-Gestaltungen des massiv öffentlich geförderten Festivals unterschieden werden konnte – weil es die gleichen (kommerziellen) Mechanismen bediente. Auch die Hannoversche Allgemeine Zeitung unterschied nicht zwischen Kunst und bezahltem Werbeauftrag mit festgelegtem Motiv. Ob eine Arbeit frei oder angewandt ist, scheint hier niemanden mehr zu interessieren: Wer große, bunte Bilder mit einer gewissen Kunstfertigkeit an Wände malt, muss wohl ein*e Künstler*in sein. Entsprechend groß war der öffentliche Aufschrei, als die Werbung nach Ablauf des bezahlten Zeitraums wieder entfernt wurde – weil der Großteil der Kommentator*innen überzeugt war, hier werde Kunst übermalt oder gar „zensiert“.
Pünktchen und August
Auch beim aktuellen Schwarmkunst-Projekt, das die hannoversche Künstlerin Kerstin Schulz in Kooperation mit der Agentur für Kreative Zwischenraumnutzung durchführt, greift die zurzeit regelmäßig konditionierte Formel groß+bunt=Kunst. Es trägt den bezeichnenden Titel FarbeStadttWerte und springt sehr hoch und weit, um dann sehr unspektakulär zu landen. Die Künstlerin ließ das Ernst-August-Denkmal vor dem Hauptbahnhof Hannover komplett in schwarze Plastikfolie wickeln – soweit, so gut: Das ikonische Reiterstandbild eines autokratischen und unbeliebten Herrschers auf diese Weise zu neutralisieren und zur Projektionsfläche zu machen, kann mit Wohlwollen als Beitrag zur Denkmaldebatte gelesen werden. Allerdings fehlen Kontexte und Refenzen: Unweit des Hauptbahnhofs, an der Ecke Andreaestraße/Schillerstraße, steht Stephan Balkenhols Bronzeplastik Mann mit Hirsch, die als alternatives Reiterstandbild mit aufgelösten Hierarchien gelesen werden kann. Und vor dem Landtag, am Platz der Göttinger Sieben, befindet sich Floriano Bodinis Figurenensemble Göttinger Sieben, das deren Einsatz für demokratische Rechte als einen frühen Akt der Zivilcourage ehrt – und den gleichen König Ernst August, der vor dem Hauptbahnhof sitzt, als Antagonisten porträtiert.
Im zweiten Bewerbungsbuch der hannoverschen Bewerbung als Europäische Kulturhauptstadt 2025 steht als Teil der Beschreibung des Projektes Hannover den Hannoveranern auf Seite 35: „Als symbolische Geste wird gleich zu Beginn des Kulturhauptstadtjahres die Statue des Hannoveraners vor dem Hauptbahnhof von seinem zweifelhaften Reiter befreit: Herrscher Ernst August (1771–1851).“ In einer Fußnote dazu heißt es weiter: „Diese Formulierung ist bewusst vage gehalten. Wie aus E-Mails hervorgeht, gingen die Meinungen im Team bezüglich der „Befreiung der Pferdestatue“ sehr auseinander. Während einige nur für eine Verhüllung von Ernst August plädierten, wollten andere „den Dude einfach runterflexen“. Ist ja kein Geheimnis, dass das ein reaktionärer und unbeliebter Herrscher war, der 1837 Hannovers erste liberale Verfassung aufgehoben und die sieben Göttinger Gelehrten, die diesen Schritt kritisierten, des Landes verwiesen hat. Der Typ kann also weg; gerade vor dem Hintergrund der aktuellen Black Lives Matter-Diskussionen um das Niederreißen von Statuen von Unterdrückern.“
Eine solche diskursive Höhe verweigert das Projekt FarbeStadttWerte jedoch – und wird stattdessen seinem Titel gerecht: Die Folie dient nur als Schutz gegen Punkte aus farbigem Silikon, die Passant*innen von einem Gerüst aus aufbringen dürfen. Es bleibt bei reinem Aktionismus, bei einem Beteiligungsformat, das ausschließlich auf eine sehr niedrigschwellige Handlung mit minimalem Gestaltungsspielraum setzt, anstatt eine Auseinandersetzung mit dem verhüllten Objekt anzuregen. Es könnte sich um jedes beliebige Denkmal handeln. Scheinbar wurde dieses nur ausgewählt, weil es prominent und zentral vor dem Hauptbahnhof steht und so maximale Wahrnehmbarkeit garantiert. Selbstverständlich wird über die Aktion groß in der Hannoverschen Allgemeinen Zeitung berichtet: wieder im Lokalteil, wieder affirmativ nach der Maßgabe „groß und bunt genug, um als Kunst gefeiert zu werden“.
Bleibt anzumerken, dass es sich beim Ernst-August-Platz keinesfalls um einen öffentlichen Raum handelt, sondern bestenfalls um einen halböffentlichen. Die Deutsche Bahn AG übt dort Haurecht aus und präsentiert Hausordnungen an zahlreichen Lichtmasten.
Die beste aller möglichen Welten und die Zeit, die wir lieben können
Kunst umgehens Jahresprogramm 2020 endete mit einer Lichtkunstführung, in der Anna Grunemann das Geheimnis um die beiden Leuchtbuchstaben TH auf dem Dach des Sprengel Museums lüftete: Es war ein Test für die dauerhafte Installation von Tim Etchells Schriftzug THE BEST OF ALL POSSIBLE WORLDS. Ich griff die Geschichte in meinem Ausblick vor sechs Monaten auf und versprach abschließend: „Wir werden versuchen, unseren Beitrag dazu zu leisten, dass die beste aller möglichen Welten ihre Leuchtkraft nicht verliert, sondern steigert – auch wenn sie zunächst nur von weitem leuchten mag.“ Nun hat das Sprengel Museum sein Projekt inzwischen verworfen und Etchells‘ beste aller möglichen Welten scheint für Hannover verloren. Nach einem weiteren halben Jahr Pandemie könnte uns allen – dazu passend – ein erneuter harter Winter bevorstehen.
Zum Glück hat Etchells im September einen anderen leuchtenden Satz an der Fassade der kestnergesellschaft hinterlassen, der dort noch bis zum 9. Januar 2022 in den umgebenden Stadtraum strahlen wird: Let it come, Let it come, the time we can love. Es handelt sich um ein Zitat aus Arthur Rimbauds lyrischer Textsammlung Une Saison en Enfer (Eine Zeit in der Hölle, 1873). Etchells scheint mit dem Imperativ klar machen zu wollen: Es ist an uns allen, diese Zeit herbeizuführen, die wir lieben können – oder unsere Perspektive auf die aktuell erlebte Zeit so zu verschieben, dass uns das auch jetzt schon gelingen könnte. Kunst umgehen hat mit seinem für dieses Jahr beendeten digitalen Programm auf diesen Seiten auch das versucht: Keine Notlösung anzubieten, sondern ein gleichberechtigtes Format, das nicht schlechter ist, sondern ganz einfach anders. Ich persönlich weiß unsere digitalen Beiträge inzwischen sehr zu schätzen, weil sie eine große Reichweite entwickeln und zu einem stetig wachsenden Archiv beitragen. Und vielleicht haben wir genug Diskurs zusammengetragen, um den Winter nicht allzu lang werden zu lassen. Viel Spaß beim Eintauchen in Positionen, Widersprüche und Fragestellungen.
In diesem Sinne: Punk!