Ausblick. Lebendige Archive als Zukunftsspeicher: Stadträume, Kunst darin und darüber – und das digitale Vermittlungskonzept von Kunst umgehen
Kunst umgehen hat für das Jahr 2022 konzeptuell weitergedacht: Es wird vom terminierten Programm zum Magazin mit wachsendem Archiv. Was bleibt, ist der Anspruch, mit breitem interdisziplinärem Blick Kunst in öffentlichen Räumen diskursiv zu vermitteln. Was bedeutet es also, ein Archiv nicht nur als Speicher für die Ewigkeit zu begreifen, sondern als Baukasten, Wunderkammer oder Inspirationsquelle? Und was haben Stadträume, Kunst, Diskurs und Vermittlung in dieser Hinsicht gemeinsam?

Lebendige Archive als Zukunftsspeicher: Stadträume, Kunst darin und darüber – und das digitale Vermittlungskonzept von Kunst umgehen
von Thomas Kaestle
Kunst ist seit jeher in stetigem Wandel begriffen. Ich erspare uns jetzt den ganz großen Bogen von Lascaux über Leonardo bis zur diesjährigen Lagunenkunst, da sich Kunst umgehen ohnehin vor allem mit jener Kunst beschäftigt, die erst seit 1945 ihren Weg in öffentliche Räume gefunden hat. Doch selbst in diese 77 Jahre passen Kunst am Bau, deren zaghafte Befreiung hinein in die Stadträume, die Utopie (je nach Lesart auch Dystopie) einer Kultur für alle, ein Streit zwischen Autonomie und Ortsbezügen, die Entdeckung der (eigenen) Kontexte und Systeme sowie der Teilöffentlichkeiten und Zielgruppen, die Bewusstmachungen, Paraphrasen und Zitate – und schließlich die Frage nach einer Notwendigkeit der Selbstbehauptung im Widerstreit mit bewusster postdisziplinärer Relativierung. (Das alles in grober chronologischer Reihenfolge.)
Kunst ist niemals stehengeblieben, hat keinen Zustand jemals als schön genug akzeptiert, um ihn zum Verweilen zu ermuntern. (Die Rede ist hier bewusst nicht vom Kunstmarkt – den die Luhmann‘sche Systemtheorie zurecht nicht im Kunst- sondern im Wirtschaftssystem verortet.) Kunst war schon immer die Gegenspielerin der Normalität. Sie hat dabei auch in den vergangenen zwei Jahren der Pandemie keine Ausnahme gemacht. Ihre Akteur*innen mögen hier und da in ihren Existenzen bedroht gewesen sein. Stehengeblieben sind sie wohl nicht. Weil es eben unmöglich ist. Wozu also sollten sie zurückkehren? Zum Wandel? In dem befinden sie sich ja bereits. Wie in den vergangenen 77 (oder 17.000) Jahren hat sich die Kunst weiter verändert.
„Raum zur eigenen Mutation“
Anders ist heute möglicherweise, dass wir uns dieser Veränderungen bewusster geworden sind – gerade durch die Auseinandersetzung mit einem nur vermeintlichen Stillstand. Und auch deren Wert und Notwendigkeit sind wohl deutlicher hervorgetreten. Das hannoversche Theater an der Glocksee zum Beispiel hat sich damit öffentlich auseinandergesetzt, hat neue und ungewöhnliche Formate erprobt. Plus X – Experimente und Theatermutationen nannte es sein Jahresprogramm 2021, herausgekommen ist Jonas Vietzkes großartiges digitales Live-Solo Jack in the Box, dessen Aufzeichnung Sie sich hier weiterhin ansehen können. Herausgekommen ist auch dieses Manifest:

„Wir fordern den Raum zur eigenen Mutation“, schreibt der Theatermacher Vietzke. Am kommenden Donnerstag, dem 5. Mai 2022, zeigt er als Teil eines Kollektivs die Premiere des neuen Stücks I CALL IT WATER #1 SPIRIT im Rahmen des Festivals Best OFF der Stiftung Niedersachsen – an einem neuen Ort und interdisziplinär, unter anderem unter Mitwirkung des hannoverschen Kunst-Teams Lindner & Steinbrenner. Ich habe das Vergnügen, zuvor die Eröffnung des Festivals zu moderieren und werde dabei auch darauf hinweisen, mit welchen Ideen, Konzepten, Formaten und Haltungen sich die freien darstellenden Künste in der Pandemie weiterentwickelt haben. Der Stiftung Niedersachsen gebührt Anerkennung dafür, dies zuzulassen, zu fördern und sichtbar zu machen.
Mit dem Wandel umgehen
Selbstverständlich geht auch Kunst umgehen im neuen Programmjahr weiter, in jeder Hinsicht. 2022 ist das zehnte Jahr, in dem wir im Auftrag des Kulturbüros der Landeshauptstadt Hannover Kunst und öffentliche Räume thematisieren, hinterfragen und vermitteln dürfen – mit einer unveränderten Besetzung unseres Teams. Auch wir haben uns dabei seit 2013 entwickelt, haben neue Formate und Ideen ausprobiert, um Bezüge herzustellen, um Lust und Neugierde auf Auseinandersetzungen zu wecken. Wir haben bei unserem Themenspektrum und unseren Gästen jeweils aktuelle Diskurse berücksichtigt und uns notfalls in laufende Diskussionen eingemischt. Wir haben nicht versucht, Wandel zu umgehen. Vielmehr waren wir bestrebt, damit umzugehen.
Zu Beginn des Programmjahres 2020 war das Digitale eher eine spontane Reaktion, zwar keine Notlösung, aber doch für uns alle unbekanntes Vermittlungsterrain. Wir liebten die spontanen Klappstuhlkreise, mit denen wir mitten in Hannover gemeinsam mit unseren Gästen direkt neben der Kunst auftauchten, und die flexibel mäandernden Touren durch eine Stadt, die wir immer als dynamisch begriffen haben. Doch die digitalen Experimente funktionierten zunehmend besser. Und so haben wir in zwei Jahren eine große Menge an Informationen, Meinungen, Positionen und Diskursen zusammengetragen, die wir eben nicht auf Notizen in Schuhkartons verstecken müssen. Das geht im Internet ohnehin nicht. Alles ist da und öffentlich zugänglich – jederzeit und von allen Orten der Welt aus. Auch zwei Jahre alte Beiträge verzeichnen noch hohe Besuchszahlen und sind so weitaus mehr Menschen zugänglich als analoge Formate. Natürlich können Sie als Gruppe auch weiterhin auf Sie zugeschnittene analoge Veranstaltungen bei uns buchen. Und die performativen Interventionen der Reihe Sculpture Transfer brauchen die Kunst vor Ort. Aber wir haben beschlossen, darüber hinaus auch in diesem Jahr vor allem weiterhin aktuelle digitale Inhalte zu produzieren – jedoch ebenfalls, die notwendige Verantwortung fürs in zwei Jahren Angehäufte zu übernehmen.
Archive als Wunderkammern
Die Auseinandersetzung mit dem Charakter und zeitgenössischen Potential von Archiven ist nicht neu bei Kunst umgehen. Ich ging darauf 2021 im Rahmen meines Textes Geschichte wird gemacht. Gegenwart auch. ein, indem ich unter anderem von meinen Moderationen für das Theaterfestival Impulse zum Thema mit großartigen Gästen aus allen Disziplinen berichtete. Davon mitgenommen habe ich, dass Archive dynamisch und lebendig sein können und müssen, zu Diskursproduktion und Flanieren einladen, zum Sichverlieren und Darausschöpfen. Als Lieblingszitat kristallisierte sich eines des Züricher Publizisten, Kurators und Kreativitätsforschers Paolo Bianchi heraus, das ich bereits vor einigen Monaten als Einstieg zu einem Vorwort für eine Publikation für den Fonds Darstellende Künste genutzt habe:
„Archive und Wunderkammern haben gemeinsam, dass es dort eine produktive Unordnung gibt. Es sind Orte, die die Wahrnehmung öffnen und die wundersamen Dinge wieder ein wenig zugänglich machen. […] Archivieren ist für mich im Grunde eine kuratorische Tätigkeit. Kuratieren bedeutet, sich um Dinge zu kümmern, für etwas zu sorgen, Dinge zu pflegen, vielleicht nach Maßgabe einer subjektiven Deutung Zusammenhänge zu schaffen, ein bisschen darüber zu erzählen und Dinge zu zeigen. […] Mein Archiv ist zwar auch ein Lager, aber es ist mehr eine Arbeitsgrundlage.“
Brotkrumen knabbern
Für Kunst umgehens Jubiläumsjahr haben wir uns also überlegt, keine Veranstaltungen mit festen Terminen mehr anzukündigen, da die Beiträge ja jederzeit verfügbar bleiben. Lieber informieren wir Sie, wenn es etwas Neues gibt, per Newsletter, auf facebook oder Instagram. Oder Sie schauen einfach immer mal wieder vorbei. Diese Seiten werden dabei vielleicht ein wenig mehr zum Magazin. Vor allem wollen wir aber unser Archiv pflegen, vernetzen und verstricken, Zugänge schaffen, Schneisen schlagen, Wege hinein andeuten, rote Fäden spannen und Brotkrumen streuen. (Wenigstens haben Sie dann unterwegs etwas zum Knabbern). Wir wünschen uns, dass Sie sich treiben lassen und vielleicht sogar produktiv verlaufen. Sie können jetzt aber auch gezielt suchen, in drei Strukturen: chronologisch, nach Kategorien und kommentiert sowie nach Schlagworten sortiert.
Sie haben also Lust auf eine digitale Führung? Suchen Sie sich einfach ein ansprechendes Thema aus und folgen Sie dem entsprechenden Link. Oder Sie interessieren sich für einen Diskurs? Wählen Sie einen Gast, an dessen Meinungen Sie sich reiben können. Sie sind Lehrer*in und suchen nach Anregungen für die Unterrichtsvorbereitung? Wir haben ein paar Anregungen zusammengetragen. Wie wäre es zum Beispiel mit unserem Beitrag zum Jubiläum des touristischen Roten Fadens, in dem wir Autor*innen gebeten haben, uns individuelle neue Orte vorzuschlagen und dazu kleine Texte zu verfassen? Sie recherchieren für Ihr Studium zu innovativen Ansätzen in der Stadtentwicklungsdebatte? Unser Gespräch mit Benjamin Foerster-Baldenius von raumlaborberlin könnte da gut passen. Oder Sie suchen ganz gezielt. Sie kennen George Rickeys kinetische Plastik Drei rotierende Quadrate in Münster, haben aber gehört, es habe während des Experiment Straßenkunst in Hannover auch einmal ein Objekt von diesem Künstler gegeben? Über seinen Namen gelangen Sie zu einem Beitrag, in dem Sie erfahren, dass Two Lines Oblique abgebaut und restauriert wurde und derzeit im Sprengel Museum auf eine Aufstellung im neuen Skulpturenhof wartet. Sie wollen wissen, wo Sie die Unterschiede zwischen Direktem Urbanismus und Urbaner Praxis vertiefen können? Oder suchen das einzige bislang veröffentlichte Gespräch mit Ina Weise zu ihren künstlerischen Plänen für die Neugestaltung des Steintorplatzes?
City of Discourse
Das Archiv auf diesen Seiten birgt viel Potential. Es ist eine wilde, oft heterogene Sammlung, meinungs- und thesenstark – hält aber eben auch viel Information rund um Kunst und öffentliche Räume und alles was damit heute zusammenhängen könnte bereit. Kunst umgehen zieht keine harten disziplinären Grenzen. Wir lassen uns leiten von Neugier und Offenheit: mal schauen, mal nachfragen, mal erzählen und zeigen lassen… So werden wir es auch in diesem Jahr wieder mit neuen Themen halten. Am Anfang wird wieder ein vom Team gemeinsam bestrittener Überblick stehen, diesmal als Assoziationsspiel. Wir werden uns das Knäuel mit dem roten Faden gegenseitig zuwerfen und so eine Reise durch unsere Köpfe machen, durch große Unterschiede in unseren jeweiligen Herangehensweisen und Hintergründen. Vielleicht entsteht dabei ein inspirierendes Gesamtbild – das damit wiederum ins große Ganze des Archivs Eingang findet.
In unserem Archiv ist es erlaubt, Dinge zu berühren und sich von ihnen berühren zu lassen, Ideen mitzunehmen, sie neu zu sortieren, eigene Routen zu erfinden und unbekannte Ziele zu erobern. Wir freuen uns, wenn Sie damit nicht nur etwas anfangen können, sondern wirklich Neues beginnen. Wir haben unsere Welten der Kunst in öffentlichen Räumen ausgebreitet und ergänzen sie ständig. Scouts, Multiplikator*innen und leidenschaftliche Handlungsreisende sind uns herzlich willkommen. Übrigens feiert Hannover immer noch das Jubiläum des Experiment Straßenkunst, das ja zwischen 1970 und 1974 stattfand. Vor 50 Jahren war die niedersächsische Landeshauptstadt eine Diskurshauptstadt, in der Ideen einfach mal ausprobiert wurden, in der keine Frage zu abwegig erschien. Die Sache mit dem Experiment war tatsächlich ernst gemeint. Hannover hat darüber hinaus einen Ruf als Messestadt, als Ort für Austausch. Nicht zuletzt war die griechische Agora ein Leitmotiv der Bewerbung als Europäische Kulturhauptstadt 2025. Hannover ist also nicht nur UNESCO City of Music, sondern seit mindestens 50 Jahren auch City of Discourse. In diesem Sinne begreifen wir unser Archiv als einen Zukunftsspeicher. Bitte bedienen Sie sich!