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Sculpture Transfer: Winkelelemente 1981 von Günter Tollmann

Sa. 26.11. (bleibt digital verfügbar)
Sculpture Transfer: Winkelelemente 1981 von Günter Tollmann

Die Reihe Sculpture Transfer im Rahmen von Kunst umgehen zeigt performative Eingriffe in Resonanz zu künstlerischen Objekten im Stadtraum Hannovers. Am Samstag, 6. August 2022, fand ein analoger Sculpture Transfer vor Ort bei Günter Tollmanns Skulptur Winkelelemente 1981 (Aegidientorplatz, am Eingang zur Breite Straße) statt. Die Performerinnen Anna Grunemann und Christiane Oppermann haben die Veranstaltung jetzt für eine digitale Veröffentlichung aufbereitet. Günter Tollmann beschäftigte sich jahrzehntelang mit stabilen und beweglichen Objekten, die vom Wind oder von Menschen bewegt werden können. Seine Arbeit Winkelelemente 1981 wurde von der damaligen Kreissparkasse angekauft und der Stadt Hannover geschenkt. An ihrem Standort entwickelt sie einen starken formalen Bezug.

[Günter Tollmann: Winkelelemente 1981, Aegidientorplatz, am Eingang zur Breite Straße]

Sculpture Transfer: Winkelelemente 1981 von Günter Tollmann

von Anna Grunemann und Christiane Oppermann

Der Künstler Günter Tollmann
(*1926 in Gelsenkirchen, †1990 in Hannover)

[Günter Tollmann bei der Arbeit.]

Mit seinem skulpturalen Werk erlangte Günter Tollmann internationale Bekanntheit. Er war auf dem Gebiet der Bildhauerei Autodidakt und hatte an der Düsseldorfer Kunstakademie Malerei studiert. Zur Sicherung des Lebensunterhaltes seiner Familie legte er die Meisterprüfung im Malerhandwerk ab. Bald nach seinem Studienabschluss im Jahr 1959 konnte er erste Erfolge als Maler feiern.

Auf dieser Website für Kunstauktionen sehen Sie einen kleinen Überblick zur Malerei von Günter Tollmann.

Ab 1966 begann Tollmann, der nach seinem Studium an der Düsseldorfer Kunstakademie zunächst im Stil des Informel gemalt hatte, sich mit plastischen Objekten zu beschäftigen. Dieser Schritt erscheint in seiner Biografie als Bruch, denn die geometrischen, glatten Plastiken mit ihren abgerundeten Formen hatten nichts mehr mit dem früheren gestischen Strich seiner Bilder gemein; sie standen vielmehr dem organischen Design der 1960er-Jahre nahe.

Unter dem Einfluss der mit Tollmann befreundeten Düsseldorfer Künstlergruppe ZERO um Heinz Mack, Otto Piene und Günther Uecker entsprang diese Entwicklung seinem Wunsch, die Kunst lebensnah zu gestalten und in den Alltag der Menschen einzubinden.

[Bewegliche Brunnenplastik von Günter Tollmann, 1973 in Herne vor dem Einkaufszentrum City-Center aufgestellt, inzwischen um einige Meter nach Südosten an das Ende der Herner Fußgängerzone (Bahnhofstraße) versetzt. Die kinetische Plastik wird von der Bevölkerung auch „Lindenbaum“ genannt und ist wohl tatsächlich einem Baum nachempfunden. Weitere Informationen dazu und zu Günter Tollmann finden sich in der Ausgabe September/2019 von Der Bote – Zeitschrift des Historischen Vereins Herne/Wanne-Eickel e.V. (Foto: Arnoldius – CC BY-SA 4.0)]

Tollmann experimentierte mit für ihn bis dato unbekannten Materialien und Arbeitstechniken. Diese künstlerische Neuorientierung führte ihn zu mobilen, sogenannten kinetischen Plastiken, die vom Wind oder durch Menschenhand bewegt werden können. Die mobilen Plastiken waren veränderbar und sollten vor allem bei Kunstaktionen auf der Straße zum Einsatz kommen.

[Bewegliche Plastik von Günter Tollmann, 1972 an der Fußgängerbrücke Olshausenstraße in Kiel-Ravensberg aufgestellt (Foto: Rüdiger Stehn – CC BY-SA 2.0).]

Tollmanns abrupter Wechsel von der Malerei zur Bildhauerei überraschte das Publikum zunächst, wurde aber bereits 1969 zum zweiten Mal mit dem Kunstpreis der Stadt Gelsenkirchen, diesmal im Bereich Plastik, honoriert und fünf Jahre später in Paris mit dem Prix de la Jeune Sculpture ausgezeichnet.

RuhrKunstMuseen, das Museumsbetzwerk der Metropole Ruhr, schreibt auf seiner Website zur Kinetischen Plastik von Günter Tollmann vor der Musikschule in Hamm:

„Die Kinetische Plastik aus dem Jahr 1976 vor der Hammer Musikschule zeigt, warum Tollmann seine Werke einmal als »Bäume der Zukunft« bezeichnet hat. Das Material Edelstahl, seine glänzende, reflektierende Oberfläche und die strengen, technisch anmutenden Formen wirken in der Tat futuristisch. Wie ein Baum übersteigt das Format die menschliche Figur. Wie eine Baumkrone sich über einem Stamm ausbreitet und im Wind bewegt, verzweigen sich im oberen Teil der Plastik mobile Formen auf einer feststehenden, überlebensgroßen Säule. Sie ist an ihrem oberen Ende in drei Trommeln unterteilt, von denen aus jeweils zwei symmetrisch angeordnete Quaderformen nach außen führen und in Zylinder münden. Diese drei knochen- oder keulenartigen Elemente sind beweglich und rotieren um die Mittelachse. Sie lassen sich dadurch zur Deckung bringen, dass sie mit der mittleren Vertikalen drei parallele Zylinder gleichen Umfangs bilden. Jedoch ist diese Konstellation nur eine sehr seltene von unendlichen Kombinationsmöglichkeiten, denn nur der Wind, mithin der Zufall, könnte diese spezifische plastische Form hervorbringen. In Tollmanns Werk verbindet sich ein spielerisches Moment mit kompositorischer Strenge und technisch-konstruktiver Form. Aus wenigen reduzierten Einzelformen entstehen komplexe Raumgebilde. Die mobilen Elemente greifen aktiv in den (Luft-)Raum aus, können sich aber auch wieder in die geschlossene Form des Zylinders einfügen. Durch ihre stetige Veränderung bietet die Plastik immer wieder eine neue und andere Sicht. Tollmanns Interesse an Partizipation und Aktivierung der Betrachter ließ ihn ungewöhnliche Wege gehen. So verlegte er im Februar 1969 sein Atelier für einen Monat in den Museumsraum, in dem er mit Schneidbrenner und Schweißgerät bildhauerisch tätig wurde. Während dort der Prozess der Herstellung eines Kunstwerks beobachtet werden konnte, erfordern seine kinetischen Plastiken eine aktive Rezeption. Dazu eignet sich die Aufstellung an einem zentralen Ort im städtischen Raum in besonderem Maße: Zahlreiche Menschen begegnen dem Werk mehrmals und sehen dabei im Idealfall ein und dasselbe Kunstwerk in jeweils anderer Form. Die sich verändernde Plastik entspricht dem dynamischen Charakter der Stadt.“

Tollmanns Arbeiten im öffentlichen Raum

Von Günter Tollmann finden sich Arbeiten in den öffentlichen Räumen folgender Städte:

Recklinghausen (Sparkasse), Oberhausen (Norbertschule), Gelsenkirchen (u.a. Städtisches Museum), Göttingen (Max-Planck-Institut), Paris (Ministère des Affaires Culturelles), Hamm (Musikschule), Nürnberg (Grundschule Zugspitzstraße), Bergkamen (Fußgänerzone), Kiel (Fußgängerbrücke), Hannover (Sparkasse Aegidientorplatz und Mittelstreifen Vahrenwalder Straße), Essen, Ibbenbühren, Bad Oeynhausen, Bonn, Hamborn, Duisburg und Siegburg.

[Kinetisches Objekt ohne Titel von Günter Tollmann, 1969 vor dem Städtischen Museum in Gelsenkirchen-Buer aufgestellt. (Foto Public Domain).]

Sculpture Transfer – ein performatives Vermittlungskonzept

Sculpture Transfer wird von uns bewusst mit einem englischen Titel bezeichnet. Steckt in diesen beiden Worten doch schon die Beschreibung unseres performativen Vorgehens.

Im Englischen wird das Wort sculpture für Skulpturen wie Plastiken gleichermaßen verwendet. Es gibt keinen Unterschied der Form von dreidimensionaler Kunst. Der transfer beschreibt eine Verschiebung/Überlagerung/Übereignung. Es gäbe viele weitere passende Übersetzungen, die allesamt unserer Vorgehensweise adäquat sind.

Unsere performativen Handlungen an den ausgewählten Skulpturen im öffentlichen Raum sind also Versuchsanordnungen, die die Kunstwerke auf ihre Wirkungen und Wechselspiele mit dem öffentlichen Raum und seinen Nutzer*innen untersuchen. Dabei tragen wir oft Material ein, welches die Proportionen eines Kunstwerks neu erfahrbar und lesbar werden lassen und benutzen diese im Wechselspiel mit dem jeweiligen Kunstwerk und dem Agieren der Partnerin.

Was beim Sculpture Transfer im günstigsten Fall für die Betrachter*innen herauskommt, ist ein neuer Blick auf die Arbeit, der angestoßen durch die in der Regel nonverbale Performance den Horizont weitet für bislang im Alltag Steckengebliebenes.

Kleine verborgene Details treten plötzlich hervor und lassen die künstlerische Intervention in neuem Licht erscheinen. An Stelle der Passant*innen begeben wir uns im Verlauf der Performance auf Tuchfühlung mit der Arbeit, ihrer Ausstrahlung, ihrer Materialität, ihres Standortes und erforschen dabei in Interaktion miteinander die Möglichkeiten vor Ort und sind zuweilen selbst überrascht über das, was uns unser performatives Handeln eröffnet.

Der Aegidientorplatz

[Aegidientor um 1830 (Abbildung Public Domain).]

„Das Aegidientor war seit dem Mittelalter das südöstliche Stadttor der Stadtbefestigung Hannover. Den Namen – gelegentlich auch als Egidien Thor geschrieben – erhielt es von der benachbarten Aegidienkirche. Hier traf die Fernstraße aus Richtung Hildesheim auf die Stadt. Vor dem Tor lag die im 9. Jahrhundert entstandene und später wüst gefallene Siedlung Eddingerode.“

„Das Tor wurde im Jahre 1307 erstmals erwähnt. Der mehrgeschossige innere Torturm, versehen mit einer Durchfahrt, stand inmitten der Breiten Straße. Im Zuge des Ausbaus der Stadtbefestigung wurde 1504 außerhalb des Walles, direkt neben dem äußeren Torhaus (etwa an der Mitte des heutigen Aegidientorplatzes), ein Zwinger gebaut. Der Zugang zur Stadt führte hier fortan über eine Zugbrücke über den Graben, durch das äußere Torhaus, über eine zweite Brücke und durch das innere Tor.“

(Quelle: Wikipedia.)

[Der Aegidientorplatz in den 1960er Jahren mit Hochstraße (1968 bis 1998) (Foto: Rolf Kohrs – CC BY-SA 3.0).]

Sculpture Transfer am 6. August 2022 von 17 bis 18 Uhr

Die Winkelelemente Günter Tollmanns markieren den Ort, an dem sich einst das Aegidientor befand, und bilden mal einen Tordurchgang und dann wieder eine überdimensionale Kartierungsmarke im Stadtraum, je nachdem, wie die beweglichen Objekte zueinander stehen.

[Günter Tollmann: Winkelelemente 1981, Modell (Foto: Peter Endebrock).]

[Alle Fotos in diesem Abschnitt von Dagmar Pollack.]

Nachschau

[Passant*innen treten zuweilen unmittelbar und unbewusst in Interaktion mit der erstellten Versuchsanordnung.]
[Video: Nachbetrachtung.]
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