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Wer den öffentlichen Raum neu erleben will, muss rausgehen

Wer den öffentlichen Raum neu erleben will, muss rausgehen

Vom haptischen Verstehen und verstehenden Denken

von Anna Grunemann

Es war ein sonniger Tag im Juli und nachdem selbst wir vom Team Kunst umgehen viel zu lange durch die Onlinebrille geschaut haben, beschloss ich, durch die Stadt zu streifen und die Sache vor Ort zu betrachten.

Rückblick und viele Fragen

Die documenta fifteen hat mich verunsichert. Das beglückende und weckende Gefühl, das sich sonst beim Besuch solcher Mega-Kunstereignisse einstellte, wollte mich in Kassel nicht erfassen. Stattdessen Fragen wie: „Wozu haben wir ein Recht?“, „Ist unsere westlich geprägte Sicht auf Kunst wirklich richtiger und wesentlicher als die anderer Gesellschaften?“, „Darf Kunst so instrumentalisiert und in Gleichschritt gebracht werden?“, „Wieviel muss der Künstler sich um seine Arbeit und deren Aussage und ihre Potentiale zur möglichen Missverständlichkeit kümmern?“…

Wenn Kunst also, insbesondere Kunst im öffentlichen Raum, den Betrachter aufrütteln kann – ihn zu wecken in der Lage ist -, ihn kritisch fragen und nachdenken lassen soll, dann haben die Kurator*innen der documenta fifteen vielleicht nicht so viel falsch gemacht. Zumindest hat es bei mir funktioniert. Wer behauptet denn, dass wir (die Rezipient*innen) uns immer wohlfühlen sollen bei diesen Fragen, diesen Bildern, die wir in einer bestimmten Erwartung ja am Ende doch konsumieren wollen.

Die documenta ist immer mit großen Erwartungen aufgeladen. Wir warten ja schließlich fünf Jahre auf diese Begegnung mit der besonderen Kunst. Und dann in diesem Jahr – auf den ersten Blick nur Enttäuschungen, Skandale, Wortkargheit, Dünnhäutigkeit auf allen Seiten. Angefangen mit dem labberigen Beschreibungsheft der Arbeiten. Ein paar Zeilen englische, ein paar Zeilen deutsche Gedanken – wenig Erhellendes, die QR-Codes führen ins Unendliche – nichts Haptisches – das Digitale scheint hip und treibt die Verunsicherung weiter. Nichts, in dem wir Halt und Gewissheit finden könnten. Wer hat das geschrieben? Waren das schon die Anderen? Diejenigen von der anderen Welt, die offenbar so einen anderen Blick auf dieselbe haben und diesen Blick auch mit anderer künstlerischer Sprache ausdrücken wollen?

Da waren Behausungen aus Lumpen zu sehen – gegenüber der prunkvollen Orangerie in der Karlsaue. Eine Provokation, die nicht nur den Gegensatz zwischen den Welten beschreibt, sondern auch die Zugehörigkeiten ihrer Geborenen.

Im Inneren des Baus endlose Interviews – Fragen nach Würde und Selbstbestimmtheit – und draußen schlingernde Sounds des Second-Hand-Kleidungsmarktes von Lagos, die durch die schöne Karlsaue wabern, in der wir doch viel lieber unbeschwert flanieren würden, wie es früher nur den Adligen vorbehalten war. Wir sind doch jetzt die Privilegierten.

Eigentlich waren diese Bildteppiche gar nicht so unverständlich.

Aber unbequem waren sie und verbreiteten eben nicht dieses erwartete positive, optimistische Gefühl des Tunwollens, sondern das bedrängende Gefühl dessen, dass hier etwas Relevantes zu tun zwar nötig und möglich sei, aber sehr sehr einschneidend für uns hier im Freien Westen sein dürfte.

Was für wen vermitteln?

Mein Besuch in Kassel hat mich geerdet – mich in die Situation katapultiert, in der sich wohl die allermeisten Nutzer*innen des öffentlichen Raumes befinden. Da werden sie mit Objekten und Materialien konfrontiert, mit fremdartigen Bildern von noch fremdartigeren Themen, und es wird allen Ernstes erwartet, dass sie sich interessieren – positiv und selbstkritisch deutend Position beziehen.

Muss Kunstvermittlung Verstehen der Kunst vermitteln oder dem Verunsicherten Sicherheit vermitteln oder der unverständlichen Kunst eine verständliche Sprache beistellen? Kann unsere Sprache der Kunstvermittlung überhaupt das vermitteln, was hier in Kassel gar nicht verständlich, weil gar nicht mit westlichem Sinn besetzt ist?

Immer wieder kommen von Passant*innen in Hannover Sätze wie: „Diese Arbeit hab ich noch nie hier gesehen“, oder: „Das war mir nicht klar, dass das Kunst ist“. Ein Grund mehr, Vermittlung zu betreiben. Vermittlung zwischen den scheinbar nicht zeitlos beredten Objekten und Materialien und den scheinbar immer weniger historisch verstehenden New Natives aller Altersgruppen.

Was aber, wenn die Große Kugelform aus den 1960er Jahren von Hans Hartung oder die Schattenlinie (1992) von Dorothee von Windheim eben heute so gar keine kurzschlussfähigen Synapsen mehr besitzen und die Pop Ups im World Wide Web zwar die Fakten präsentieren können, aber das Wesentliche am Kunstbegreifen fehlt – nämlich das Begreifen.

Begriff und Sinn

Nun bin ich gar nicht der Meinung, dass alle Kunst und insbesondere die im öffentlichen Raum ausschließlich verständlich und gegenständlich sein soll. Aber wir sollten ihr die Möglichkeit geben, sie begreiflich zu machen, indem wir sie zunächst als eine Begrifflichkeit mit Sinnhaftigkeit in sich selbst ansehen.

Dazu zählt meines Erachtens auch, sie nicht zur Dekoration verkommen zu lassen:

[Robert Schad: In Vent, 1999, Innenhof der Sparkasse am Aegidientorplatz, Hannover]

Oder ihr auch den Raum zum Atmen zuzugestehen und selbst notwendige Maßnahmen mit Rücksicht auf die Belange von Kunst im öffentlichen Raum durchzuführen.

[Günter Tollmann: Winkelelemente 1981 am Aegidientorplatz, Eingang Breite Straße – temporäre Erweiterung durch Bauelemente, 2022]

Wenn aber Kunst im öffentlichen Raum nun heute mehr denn je ein Kommunikationsfeld eröffnen will, welches über unsere Gesellschaft oder andere Gesellschaften nachdenklich machen will, so hätte ein Projekt, welches über drei Sommermonate am Georgsplatz in Hannover realisiert wurde, große Chancen gehabt, diesem Anspruch gerecht zu werden.

Ob(D)Acht – My Home is my Castle – ein Schwarmkunstprojekt –  wunde initiiert von der Künstlerin Kerstin Schulz aus Hannover. Aus PET-Flaschen, die zum Teil beim Hannover Marathon 2022 gesammelt wurden, konnten Passant*innen ihr Home, ihren Traum, ihr Schloss bauen. Leider war das, was und wie gebaut werden konnte, bereits vorgegeben – nämlich ein Schloss mit Türmen. Ist es also das, was denjenigen fehlt, die kein Obdach und keinen Schutz haben? Obdachlosigkeit und ihr Gesicht in der Öffentlichkeit waren die Themen des ambitionierten Projektes, welches von Kerstin Schulz wirklich mit viel Energie betrieben wurde. In der Tat gab es Beteiligung aus unterschiedlichsten Bereichen der Gesellschaft und so wuchs das Schloss, wurde prächtig und bunte Augen beäugten die verdutzten Passanten.

[My Home is my Castle]

Ist es ein Erfolg, Kunst zu verstehen?

Viel Verständliches war da eingewoben. Das Nachhaltigkeit versprechende Recyclingsiegel, die mit 25 Cent bepfandete PET-Flasche selbst, der Schutz versprechende Bergfried, das Vergnügen versprechende Bunt der Oberflächen, die Irisaufkleber aller Farben, die uns allen die Augen öffnen mögen. Und doch wage ich zu behaupten, dass die Passant*innen, selbst die sich beteiligenden Passant*innen, trotz einiger inhaltlicher Begleitveranstaltungen, mitnichten ein Verständnis für diejenigen aufbauen konnten, die für die Initialzündung des Projektes Pate standen. Dass auch einige Obdachlose an diesem Bild mitbauten und dadurch einen anderen Sichtbarkeitsstatus erlangen konnten, mag einigen interessierten Fragenden als Erfolg des Projekts reichen.

Es ist auch wirklich ein Erfolg, im Besonderen für die sich angesprochen fühlenden Menschen ohne eigenes Dach, ebenso Nutznießer zu sein von den Kulturfördergeldern der Landeshauptstadt und in ihrem quasi Wohnzimmer gestaltend tätig sein zu dürfen, ohne Vertreibung befürchten zu müssen. Damit allein hätte einer großen Thematik zur Bühne verholfen werden können. Wären nur nicht diese übermächtigen hübschen Bilder, die dieser wichtigen Thematik angeheftet wurden.

Kunst kann aber doch mehr bewirken als ein Thema in besonders eingängiger Bildhaftigkeit, die, wie ich finde, hier den Subtext fast ins Unverständliche fehlbeleuchtet, zu inszenieren. Das ist schade, zumal Hannover eben solche inklusive Auseinandersetzung auf der Basis von Kunst im öffentlichen Raum dringend und viel häufiger braucht als das aktuell geschieht. Vielleicht gehen den Passantinnen und Passanten dann eher die Augen auf, wenn sie Kunst sehen, und zwar auch jenen, die nicht damit rechnen, dass sie Kunst sehen.

Kunst spricht eine eigene Sprache – manchmal bierernst, manchmal witzig-charmant, oft rätselhaft und wenn sie gut ist, triff sie mitten ins Herz, ohne dass wir das „Gesagte“ in unsere Sprache übersetzen könnten. Mitunter stehen wir dann sprachlos, weil wir die Vokabeln eben nicht kennen, die aus dem „Gesagten“ einen für uns verständlichen Satz formen würden. Und so stehen die Sprachen oft nebeneinander und das ist vielleicht auch gut so. Besser wäre es aber noch, wir würden davon ausgehen, dass die andere Sprache im Herzen doch verständlich ist und ihr Raum geben würden, sich zu entfalten.

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